: Leichen im Schrank
Eine sehr persönliche Vergangenheitsbewältigung.
Jeder Mensch hat "versteckte Ecken". Ecken, in die man kaum reinschauen mag, vor allem aber auch nicht reinschauen muss! Ich habe jetzt so eine Ecke entdeckt: meinen Badezimmerschrank.
Es kam einiges zum Vorschein. Besonders erschreckt hat mich der Nasen- und Ohrhaartrimmer. Von Tschibo. Hatte ich vor Jahren gekauft und nie ausgepackt. Ich schaute in den Spiegel. Wäre durchaus nötig gewesen. Mit meinen Scheren endet der Eingriff immer kurz vor der Selbstverstümmelung.
Zahnpasta. Ganz viel Zahnpasta. So viele Tuben, dass ich eine Atomkatastrophe locker würde überstehen können. Blend-a-med. Blend-a-dent. Dentagard. Signal. Hat Zahnpasta ein Mindesthaltbarkeitsdatum? Ich fand sogar Haftcreme! War ich wirklich schon so alt? Dann fiel es mir ein. Für die Brücke, damals nach der Zahn-OP. Ich fand einen Zungenreiniger. Aber noch eingepackt. Das beruhigte mich irgendwie.
Make-up. Das sollte besser alles raus. Tagescremen. Oder heißt es Tagescremes? Ich hatte das alles jedenfalls in einem echten Plural und von verschiedenen Firmen. Seit ich im 12. Jahrhundert nach Christus hier eingezogen war, hatten Königinnen, Hofdamen und die Fürstinnen meines Lebens all das hinterlassen. Nachtcremes. Feuchtigkeitscremes. Shampoo mit natürlichem Orangenextrakt. Kokos-Milch-Shampoo. Tönung. Spüler. Vollwaschmittel. Von mir fand ich Rasierklingen. Gebrauchte Rasierklingen. Antike Rasierklingen! Mit Muschelbesatz, wie am Kopf eines Wales. Scheinbar aus den Tiefen meiner Badewanne in irgendwelchen Amphoren in waghalsigen Tauchgängen hochgeholt. Eine Nivea-Seife. Mit Preisaufdruck. Noch in D-Mark. Zweineunundvierzig. Unfassbar, wie teuer Seifen einst waren. Gab es damals Preisabsprachen?
Mein Badezimmerschrank schien sich innen zu einem regelrechten Container zu weiten. Sonnenschutzmittel aus drei Jahrtausenden. Rest-Medikamente. Ich konnte mich nicht mal an die Krankheiten erinnern, die ich dafür gehabt haben musste.
Vier Föhne. Vier. Ich habe seit Jahren maximal eine Kurzhaarfrisur. Wieso besitze ich vier Föhne? Dann erinnerte ich mich. Karin hatte gesagt: "Ich nehme doch nicht den Föhn deiner Ex!" Claudia hatte dann Jahre später genauso argumentiert. Und Dietlinde erst recht! "Da krieg ich Plaque von." Der erste Föhn stammte von Sabine. Zwei Haarbürsten. Haarbürsten? Ich? Mit Haaren drin. Ah, das erklärte alles. Eine von Claudia (blond) und die andere von Dietlinde (rot). Sabine hatte scheinbar vergessen, ihre Bürste bei mir zu vergessen. Oder Karin? Eine Flasche Color Glow Fluid Feel Copper. Feuchtigkeit und Farbbrillanz für lebendige Kupfertöne. Kupfertöne? Claudia? Dietlinde? Sabine? Karin? Ich konnte mich nicht erinnern. Ruth?
Ultra Gel. Extra starker Halt. Wer? Oh. Ich! Da hatte ich erst den peinlichen Versuch unternommen, meine Haare, erstens blondiert und zweitens halblang gewachsen, zu gelen. Uwe-Ochsenknecht-mäßig. Ich habe aber, zweitens, sowieso höchstens noch die Hälfte Haupthaar. Dann hatte ich in einer ähnlich peinlichen Phase meinen Spitzbart am Kinn mit Wellaflex Power Active Styling Gel in Form zu halten versucht. Ich fand drei Dosen!
Eine Wärmflasche in Herzform. Die hatten sie alle benutzt, und keine hatte je gefragt, wer sich daran schon vorher gewärmt hätte.
Ich fand Zahnbürsten, die nicht einmal mehr Archäologen bei Grabungsarbeiten verwenden würden, aus Angst um ihre Artefakte. Ich fand Sonnenschutzmittel, die noch aus dem Kambrium stammen mussten. Aspirin-Tabletten, die schon lange vor dem Ablaufdatum nicht geholfen hatten. Shower-Gels in einem Zustand, der mich schauern ließ. Ich musste diesen Schrank entweder zum Museum erklären oder mir einen eigenen Castor mieten und versuchen, das Zeug bei Gorleben zu entsorgen und neben dem Atommüll endzulagern.
Warum ich überhaupt in diese dunklen Ecken vordringe? Eine neue Frau ist in meinem Leben. Und sie braucht Platz. Auch im Bad. Sie hat Tinkturen, Gels und Cremes. Sie sitzt im Zug, und bald wird sie hier sein. Wenn sie kommt, bevor all das im Orkus der entsorgten Toilettenartikel sein wird, werde ich sofort wieder eine Neue suchen müssen. Welche Frau würde schon, wenn sie wüsste, was ich entsorge, den Platz, den ich hier geschaffen habe, einnehmen wollen?
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