KUNST

schaut sich in den Galerien von Berlin um

MARCUS WOELLER

Tanz sei für ihn Skulptur in Bewegung, sagt Ernesto Neto. Wenn man so will, dann hält der Tanz wohl den gesamten Kosmos nicht nur in Schwung, sondern gibt ihm Struktur und Form. Elektronen tanzen um Protonen, Atome gesellen sich in gewagten Hebefiguren zueinander, Moleküle sind nichts anderes als Formationstanzgruppen. Aus dem Reich der organischen Chemie mit ihren Wasserstoffbrückenbindungen und Aminosäureketten scheinen auch Netos neue Skulpturen zu stammen, wenn auch immens vergrößert. In der Galerie Max Hetzler zeigt der brasilianische Künstler (*1964) Installationen mit einem lapidaren Titel, der auch auf diese potenzielle Veränderbarkeit hinweist: „not yet titled“. Die Skulpturen bestehen aus seitlich geschlitzten Cortenstahlscheiben, die man so ähnlich als konstruktives Plastikspielzeug für Kinder kennt. Die Scheiben lassen sich vielgestaltig zusammenstecken und bilden sich selbst tragende Objekte, die an Sukkulenten erinnern, polymorphe Korallen oder eben molekulare Strukturen. Daneben stellt Neto großformatige Fotografien von figurativen Skulpturen. Auf die Bilder von Marmormännern oder von Torsi mit blanken Brüsten hat er kleine Plexiglasborde geklebt, auf denen Topfpflanzen stehen. Ein winziger Ficus benjamina neben einem muskulösen Bein aus Stein – schon setzt sich die Komposition in Bewegung. Zwei verdrehte Leiber und eine Minibromelie – schon werden Maßstäblichkeiten außer Kraft gesetzt. Und man kann sich fragen, wo steckt eigentlich mehr Leben drin? In der eingetopften Natur oder doch im gemeißelten oder geschweißten Objekt? (bis 13. April, Di.–Sa. 11–18 Uhr, Oudenarder Str. 16–20)  Auch Shary Boyle (*1972) sucht nach Überschneidungslinien von gelebter Wirklichkeit und unterschiedlich wahrgenommenen Realitäten. Sie arbeitet multimedial und führt Projektionen mit Over-Head-Projektoren auf, fertigt Porzellanskulpturen oder Fotocollagen. Im letzten Sommer wurde Boyle als Künstlerin des Kanadischen Pavillons für die diesjährige Biennale von Venedig nominiert, am Dienstagabend konnte sie sich dem Publikum im KW Institute for Contemporary Art vorstellen. Wie so viele zeitgenössische Künstlerinnen schöpft auch Boyle aus einer ungeheuren Lust an der Bildrecherche. Ihr Ziel ist die Verstärkung gefundener Bilder in narrativen Zusammenhängen. Boyle will der Sprache von Zeichen und Symbolen mehr vertrauen als verbaler Kommunikation und didaktischen Konzepten. Ihrer Imagination lässt sie dafür freien Lauf und scheut sich auch nicht davor, Esoterik, Kitsch und Kunsthandwerk zu vereinnahmen. Dabei beweist sie Mut. Hoffentlich sind Berliner Galeristen darauf aufmerksam geworden. (www.sharyboyle.com)