: Großer Wahlerfolg für die Muslimbrüder
Bei den ägyptischen Parlamentswahlen hat die islamistische Organisation die Zahl ihrer Sitze bislang verfünffacht. Nun wird kontrovers diskutiert, welche Rolle die stärkste Kraft der Opposition künftig im politischen System des Landes spielen wird
AUS KAIRO KARIM EL-GAWHARY
In Ägypten hat die Muslimbruderschaft nach dem vierten von sechs Wahlgängen 76 Sitze im Parlament gewonnen. Damit hat die islamistische Gruppierung ihre Präsenz in der Volkskammer des bevölkerungsreichsten arabischen Landes verfünffacht. Und das, obwohl noch zwei weitere Wahlrunden bevorstehen und die Muslimbrüder offiziell verboten sind, weswegen ihre Kandidaten als Parteilose antreten. Die regierende National Demokratische Partei (NDP) von Präsident Hosni Mubarak konnte sich bisher fast 200 von 444 Sitzen im Parlament sichern. Die Muslimbrüder treten nur in einem Drittel der Wahlbezirke an.
In Ägypten wird nun kontrovers über die Frage diskutiert, ob die Muslimbrüder im Falle einer Demokratisierung ihren Platz im politischen System des Landes einnehmen sollen, obwohl sie in ihrem Wahlprogramm die Durchsetzung des islamischen Rechts fordern. Kritiker fürchten, dass sie nun, als mit Abstand größter Oppositionsblock, ihre konservative Tagesordnung vorantreiben und vor allem Probleme der „öffentlichen Moral“ aufgreifen werden.
Die Muslimbrüder bemühen sich jetzt, die Wogen zu glätten. In einem Kommentar mit dem Titel „Kein Grund, vor uns Angst zu haben“ versuchte einer der stellvertretenden Chefs der Muslimbrüderschaft die Sorge zu zerstreuen, dass seine Organisation ein lediglich taktisches Verhältnis zur Demokratie habe. Khairat al-Schater schreibt in einem Gastkommentar in der britischen Tageszeitung The Guardian: „Keine politische, religiöse oder gesellschaftliche Gruppe sollte aus Ägyptens politischen Leben ausgeschlossen werden.“ Der Autor fährt fort: „Unser Ziel ist es, das Einparteienmonopol in Ägypten zu beenden.“
Die Organisation bleibt vage, was ihre Parole „Islam ist die Lösung“ genau beinhaltet. Auch ihr zweiter stellvertretender Vorsitzender, Muhammad Habib, präsentiert die Muslimbrüder als einen Teil der Reformbewegung, die der Demokratie verpflichtet sei, solange, so die entscheidende Einschränkung, „die daraus entspringenden Entscheidungen nicht dem islamischen Recht widersprechen“.
Der linke Historiker und Redakteur der Kulturzeitschrift Al-Qahira, Salah Essa, ist davon nicht überzeugt. Er sagt voraus, dass die Muslimbrüder sich mit wachsendem Erfolg „in eine Art ägyptische Taliban verwandeln werden“. Auch unter koptischen Christen, die etwa zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen, stößt die Aussicht auf eine starke Muslimbruderschaft auf große Skepsis. Einer ihrer prominentesten Vertreter, der Intellektuelle Milad Hanna, hat gar öffentlich angekündigt, das Land zu verlassen, sollten die Muslimbrüder an die Macht kommen. Doch nicht jeder betrachtet den wachsenden Einfluss der Islamisten als Gefahr. Der liberale ägyptische Soziologe Saad Eddin Ibrahim sieht eine Stärkung der Muslimbrüder langfristig als „einen Gesundungsprozess der ägyptischen Demokratie“. „Ich weiß, dass sich Kopten, Frauen und die USA Sorgen machen, aber die Muslimbrüder sind eine sehr pragmatische Gruppe“, erklärt er. Ihre Stärke werde auch anderen politischen Gruppen neue Energie verleihen.
Doch diese werden im neuen Parlament nur Zaungäste sein. Die säkulare Opposition hat sich bisher lediglich eine handvoll Sitze gesichert. Einige Vertreter der „Es-reicht-Bewegung“ (Kifaya) – in Anspielung auf den seit einem Vierteljahrhundert amtierenden Mubarak – hoffen nun, dass die Muslimbrüder sich als Verbündete im Kampf für Reformen erweisen werden. „Ihr Erfolg gibt uns allen Hoffnung, dass wir etwas erreichen können, wenn wir, wie sie, unsere Rechte verteidigen“, meint Kifaya-Aktivist Wael Khalil.
Der Erfolg der Muslimbrüder ist gleichzeitig eine Schlappe für die Regierungspartei. Nachdem die Organisation bereits in der ersten Runde gut abgeschnitten hatte, griff die Regierung auf ihre bewährten Mittel zurück. Hunderte von Muslimbrüdern wurden verhaftet, ihre Anhänger wurden massiv am Wählen gehindert. „Die Botschaft lautet, dass einfache Formen der Korruption nicht mehr ausreichen, um die Wahlen eindeutig zu gewinnen. Man braucht eine Ideologie und politische Visionen, und die NDP hat keines von beidem,“ beschreibt Muhammad Said Sayyed vom Al-Ahram-Zentrum für strategische Studien die neue Lage.