Armenische Gemeinde flieht aus Syrien: Flucht zu den verarmten Brüdern
Knapp 4.000 Armenier aus Syrien suchen Schutz vor dem Krieg in der Kaukasusrepublik. Die Menschen dort sind bitterarm, aber sie helfen, so gut sie können.
BERLIN taz | Einen Job in einer Firma hat er schon, eine eigene Unterkunft noch nicht. „Das ist ein großes Problem, aber ich versuche trotzdem, mir hier in Armenien ein neues Leben aufzubauen“, sagt Harut Palulyan. Der 22-Jährige ist mit seiner Mutter und Schwester vor einem Monat aus Syrien geflohen.
Die Familie lebte in Aleppo. Dort hat Harut Ökonomie studiert und versucht jetzt an der Universität in der Hauptstadt Jerewan seinen Master zu machen. „Zurzeit wohnen wir bei meinem älteren Bruder in Jerewan. Er ist verheiratet und hat ein Baby. Sechs Personen in einer Zweizimmerwohnung. Das ist zu eng. Deshalb müssen wir schnell etwas finden.“
So wie Harut sind in den vergangenen Monaten knapp 4.000 Angehörige der armenischen Minderheit aus Syrien vor dem Bürgerkrieg nach Armenien geflohen. In Syrien leben etwa 100.000 Armenier, davon allein knapp 60.000 in Aleppo. Die armenische Gemeinde in Syrien war eine der ersten in der Diaspora, die nach dem Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915 entstand.
Angesichts der explosiven Lage in Syrien hat die armenische Regierung die Formalitäten für die Visavergabe vereinfacht. Zudem ist in Armenien seit 2007 die doppelte Staatsbürgerschaft erlaubt. Nach Angaben der Pass- und Visaabteilung der Polizei Jerewan haben zwischen Januar und Juli dieses Jahres 3.663 Armenier aus Syrien um einen armenischen Pass nachgesucht.
Extrateure Sonderflüge
Doch nicht alle Ausreisewilligen können sich auf den Weg nach Jerewan machen. Zwar hat die armenische Fluggesellschaft Armavia Sonderflüge zwischen Jerewan und Aleppo sowie Damaskus eingerichtet. Doch die Ticketpreise wurden massiv erhöht. Kostete die Strecke vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs 245 Euro, mussten die Flüchtlinge in den vergangenen Wochen und Monaten 380 Euro für ein Ticket hinlegen. Nach massiven Protesten und einer Intervention der armenischen Regierung reduzierte Armavia den Preis wieder.
Überhaupt stellen die Neuankömmlinge aus Syrien für Armenien eine besondere Herausforderung dar. Denn das Land ist bitterarm. Ein nicht unerheblicher Teil des armenischen Staatshaushalts wird von der Diaspora (circa 10 Millionen Armenier) finanziert. Offiziell lag die Arbeitslosenrate Anfang 2012 bei 6,2 Prozent, dürfte aber in Wahrheit viel höher sein. 2011 betrugen Löhne durchschnittlich 220 Euro und Renten 52 Euro.
Trotzdem bemüht sich die Regierung, den Flüchtlingen zu helfen. Das Diasporaministerium stellte 17.500 Euro für ein zweiwöchiges Kindersommerlager im August zur Verfügung. 400 Teilnehmer sind aus Syrien und von ihren Eltern nach Jerewan geschickt worden. „Danach haben diese Kinder die Möglichkeit, bei armenischen Familien zu wohnen. 150 Familien sind bereit, Kinder aus Syrien aufzunehmen“, sagte die Diasporaministerin Hranusch Hakobyan unlängst vor Journalisten.
Sprachkurse in Ostarmenisch
In drei Jerewaner Schulen werden Schüler aus Syrien in speziellen Kursen unterrichtet. Auch für Studenten plant das Ministerium Weiterbildungsangebote. Eine große Hürde für die Armenier aus Syrien ist die Sprache. In Armenien und anderen Staaten der Exsowjetunion spricht man Ostarmenisch. Westarmenisch wird in der Diaspora gesprochen. Die Sprachen unterscheiden sich in Grammatik, Wortschatz und Orthografie. Intensivsprachkurse in Ostarmenisch sollen den Armeniern aus Syrien die Integration erleichtern.
Einige Nichtregierungsorganisationen unterstützen das Diasporaministerium. Zum Beispiel die Facebook-Initiative „Förderung für Rückkehrer“. Dort können sich Helfer registrieren lassen. „Ein Geschäftsmann hat mit Möbeln einer Familie geholfen, ein Mädchen wollte 10 Euro spenden“, sagt Karen Vrtanesyan, Aktivist der Initiative. Auch juristisch könnten sich die Flüchtlinge beraten lassen. „Die Menschen, die vor einer Woche gekommen sind, haben unterschiedliche Geschichten erzählt. Einer sagte, die Lage in seinem Bezirk in Aleppo sei normal. Andere sagten, es gebe kein Brot und kein Wasser.“ Die Ankommenden klagten über hohe Preise auf Märkten in Jerewan: 10 Kilogramm Orangen kosteten in Syrien ein Euro, in Armenien ein Kilogramm Orangen zwei Euro.
„Die Mehrheit der Ankommenden organisiert ihr Leben selbst. Viele möchten nicht in Armenien bleiben, sondern in ein, zwei Monaten nach Syrien zurückkehren“, sagt Vrtanesyan. Nach Angaben des Migrationsamts Armeniens haben sich 30 Familien um den Flüchtlingsstatus beworben. Sie alle hätten Unterkünfte vom Staat bekommen.
Das stößt nicht bei allen Einheimischen auf Zustimmung, denn die Wohnungsnot ist groß. „Ich bekomme 55 Euro Rente. Die Armenier aus Syrien können sich nicht vorstellen, wie man mit so wenig Geld leben kann“, sagt Asja Avetisyan. Die 68-Jährige wohnt bei ihrem Sohn. „Aber“, sagt sie, „Wir dürfen diese Menschen nicht allein lassen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Klimakiller Landwirtschaft
Immer weniger Schweine und Rinder in Deutschland