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Archiv-Artikel

Plötzlich war da dieser Schimmel

Verhaltenstherapie, sieben Monate Psychiatrie, Neuroleptika ohne Ende – erst dann kam die hoffnungslose Diagnose: FTD

Die Krankheit

 Statistik: In Deutschland sind rund 1,1 Millionen Menschen an einer Demenz erkrankt, zwei Drittel davon leiden an Alzheimer. An der Frontotemporalen Demenz (FTD) sind etwa 30.000 Menschen erkrankt.

 Verlauf: Bei der FTD sterben Nervenzellen im Stirnlappen und im Schläfenlappen ab. Die Krankheit kann jeden treffen. Nur in etwa 10 bis 30 Prozent der Fälle ist die Frontotemporale Demenz erblich bedingt. Im Schnitt erkranken die Betroffenen mit 58 Jahren, aber auch Erkrankungen mit 40 oder noch früher können vorkommen.

 Forschung: Über die Entstehung der Krankheit weiß die Forschung bis heute nach wie vor relativ wenig, obwohl der Prager Neurologe Arnold Pick sie schon 1892 erstmals beschrieben hat. Bis heute wird die FTD deshalb auch als „Pick-Krankheit“ oder „Morbus Pick“ bezeichnet. Zu Beginn der Krankheit ändern sich das Verhalten und die Persönlichkeit, das Gedächtnis ist dagegen lange Zeit noch intakt. Die Betroffenen fangen zum Beispiel plötzlich an, Zigaretten zu klauen, Autos zu zerkratzen oder Kindern auf der Straße ihr Eis wegzunehmen. Den Erkrankten fehlt meist jegliche Krankheitseinsicht. Später treten neurologische Symptome auf, wie sie auch bei der Parkinson-Krankheit vorkommen, dazu kommen Schluckbeschwerden und ein labiler Blutdruck.

www.deutsche-alzheimer.de

VON WOLF SCHMIDT

„I leg mi aufs Hausbankerl, Papa“, sagt Micha. „Mach des, Micha“, antwortet der Vater.

Das Hausbankerl ist Michas Lieblingsort. Er sucht es jeden Tag auf. Fünf Mal. Zehn Mal. Aber immer nur für wenige Minuten. Er liegt dann auf der Bank vor dem Haus seiner Eltern, den Kopf auf der Metalllehne. Ohne Kissen, ohne Decke, auch wenn die Temperatur kaum über null ist. Hektisch kaut er auf einem rosa Kinderzahnpflegekaugummi herum. Gut zwanzig Stück davon kaut er. Jeden Tag.

Sein Kiefer mahlt, mahlt, mahlt. Die Augen sind geschlossen. Was geht nur in seinem Kopf vor? Was bekommt er von der Welt um ihn herum noch mit? Und wie viel von dem alten Micha steckt in diesem Körper noch?

Plötzlich springt er auf und will einen Salat essen. Sofort. Micha setzt sich mit einer großen Schüssel an den Wohnzimmertisch. Kein Essig, kein Öl, nur Blätter. Er stopft sich mit den Händen eines nach dem anderen in den Mund, kaut, kaut, kaut. Keine zwei Minuten und die Schüssel ist leer. „I leg mi no mal naus, Papa“, sagt er. „Ja, Micha“, antwortet der Vater.

So geht das den ganzen Tag.

Micha Stiegler*, 31, leidet an einer seltenen Krankheit, die in wenigen Jahren zum Tod führt: der Frontotemporalen Demenz. Sie ist eine besonders tückische Krankheit, da sie meist schon vor dem 60. Lebensjahr ausbricht. So früh wie bei Micha bricht sie nur ganz selten aus, vielleicht gerade einmal bei einer Handvoll Fälle in ganz Deutschland, sagt die behandelnde Psychiaterin.

Die Krankheit ist auch so tückisch, weil die Ärzte sie oft erst spät erkennen. Anders als bei Alzheimer sterben bei der Frontotemporalen Demenz vorne im Stirnhirn nach und nach die Nervenzellen ab. Deshalb leidet zunächst nicht das Gedächtnis oder der Orientierungssinn. Es leidet die Persönlichkeit. Das Verhalten ändert sich. Das Ich stirbt ab.

Schlimmer. Viel schlimmer

Bei Micha Stiegler hat die Krankheit vor etwa drei Jahren angefangen. Gewissheit, was mit ihrem Micha los ist, hat die Familie Stiegler aber erst seit dem Frühjahr 2009. So lange dauerte es, bis die Ärzte herausfanden, dass er an Frontotemporaler Demenz erkrankt ist, kurz: FTD.

Es fing mit einer panischen Angst vor Schimmel an. Immer wenn er einen schwarzen Punkt sieht oder etwas Weißes, vermutet Micha Stiegler Schimmel. Auf dem Brot. Im Joghurt. An den Äpfeln. Ständig spült er Becher aus, Müll trägt er sofort nach draußen. Er wäscht sich zigmal die Hände, duscht endlos. Er wird wegen der Zwänge später eine Verhaltenstherapie anfangen, aber sie hilft ihm nicht. Wie soll sie auch? Seine Krankheit ist schlimmer. Viel schlimmer.

Irgendwann fängt Micha an, Frauen mit sexuellen Sprüchen zu belästigen. Ob er sie nicht mal besamen soll, fragt er eine Kollegin auf der Arbeit. Er wird abgemahnt. Und tut es wieder. Was ist nur mit ihm los?

Im Sommer 2008 landet Micha Stiegler in der Psychiatrie. Der Verdacht: Schizophrenie. Er wird am Ende sieben Monate in stationärer Behandlung bleiben, vollgepumpt mit Neuroleptika. Aber die Medikamente bringen nichts, sie sedieren ihn nur und lassen sein Gesicht aufquellen, wie Fotos von Weihnachten vor einem Jahr zeigen. Sein Blick darauf ist unendlich leer. Erst weitere Aufnahmen von Michas Hirn im Frühjahr 2009 bringen Gewissheit. Die Bilder der Tomografen zeigen: das Stirnhirn schrumpft. Diagnose: FTD. Keine Therapie und kein Medikament können die Krankheit aufhalten.

Micha Stiegler lebt seitdem wieder im Haus seiner Eltern in den bayerischen Voralpen. Vater Johannes Stiegler ist in Ruhestand und kann sich so tagsüber um ihn kümmern, während Mutter Maria zur Arbeit geht. Allein lassen wollen die Stieglers ihren Micha nicht mehr, zu Hause nicht und im Ort nicht.

Micha Stiegler hat verlernt, was angemessen ist und was nicht, was richtig ist oder falsch, gut oder böse. Er pinkelt bei offener Toilettentür. In Restaurants schnappt er sich einfach eine Pommes von einem anderen Teller. Er fängt plötzlich mitten in einem Laden mit Schuhplatteln an. Und wenn Geld herumliegt, steckt er es ein. „Er ist wie ein unerzogenes Kind“, sagt der Vater.

Im Ort können sie nichts mit der Erkrankung anfangen. Vater Stiegler hat aber auch keine Lust, den Leuten alles auf die Nase zu binden. Wenn sie mal fragen würden: Was hat denn der Micha? Wie geht’s ihm? Dann würde er es ihnen vielleicht erklären. Aber sie fragen ja noch nicht einmal. Sie wenden sich ab.

Früher war Micha Stiegler ein fröhlicher Mensch, erzählt sein bester Freund. Heute lacht Micha nicht mehr. Die Emotionen sind wie abgestorben. Alles scheint ihm egal zu sein. Nachrichten, die Zeitung, Filme. Wenn er Fernsehen schaut, dann nur Viva und MTV, er zappt dann hektisch zwischen den beiden Musiksendern hin und her.

Man kann neben Micha sitzen und mit seinem Vater über seine Krankheit reden: Er reagiert nicht. Bekommt er nicht mit, dass es um ihn geht? Was nimmt er überhaupt noch bewusst wahr? Micha kennt noch die Namen und die Gesichter von Bekannten. Oder auch von Orten, an denen er schon war. Aber ein Gespräch mit ihm zu führen, ist kaum mehr möglich.

Was sind Sie von Beruf?

„Controller.“

Was macht ein Controller so?

„Copy, Paste.“

Schon wendet er den Blick ab und murmelt: „Nach der Ebbe kommt die Flut“. Das ist aus dem Lied „Mensch“ von Grönemeyer. Er macht so was öfter. Plötzlich platzen Zitate aus ihm heraus. „Wie kommst da jetzt drauf, Micha?“, fragt ihn der Vater dann. „So halt“, sagt Micha.

An der Ampel wartet ein Lkw. „RO-KY“ steht auf dem Nummernschild. Micha sagt plötzlich: „Rocky. Rocky Balboa.“

Stoische Liebe

Micha Stiegler ist von einer inneren Unruhe getrieben, die sich nur schwer beschreiben lässt. Der Vater spielt mit ihm „Mensch ärgere dich nicht“. Nach drei Mal würfeln sagt Micha: Machen wir was anderes? Sie gehen Spazieren, nach wenigen Schritten sagt Micha: Gehen wir wieder heim?

Sein Leben besteht aus Ritualen, die er wiederholt und wiederholt. Essen. Kaffee. Spazieren. Und immer wieder raus aufs Hausbankerl. Aber er kann keine Tätigkeit auskosten, er hakt sie nur ab. Zwischendurch stopft er Süßigkeiten in sich rein, Duplo oder Maoam. Gleich danach kaut er einen seiner Zahnpflegekaugummis. Um sich innerlich zu reinigen, vermutet der Vater.

Johannes Stiegler erträgt all das mit stoischer Liebe.

„Sagst es dann, wenn’s Suppe gibt, Papa“?

„I sag’s dir, wenn’s die Suppen gibt.“

„Sagst es dann, ge?“

„Ja, mach i.“

„Dauert nimmer lang, ge?“

„Des krieg mer scho.“

Aber anfassen, ihn umarmen: das darf der Vater nicht. Micha lässt sich nicht mehr gerne berühren, von Fremden schon gar nicht. Gute-Nacht-Sagen muss immer Mutter Maria Stiegler kommen, gleich nach dem Abendessen um halb sieben. Vorher geht Micha aber noch zu seinem Opel und prüft, ob die Fenster zu sind. Jeden Abend.

Manchmal fahren die Stieglers mit Micha nach München. Dort hat er studiert. Dort ist auch sein Lieblingscafé, die Bar Centrale in der Nähe des Marienplatzes. „Ein kleines Stück Italien“, hat er es immer genannt. Es gibt dort kleine Tischchen und Lämpchen, an einer Wand hängt ein Bild der Radlegende Fausto Coppi. Auch Micha Stiegler ist früher viel Rad gefahren, am liebsten am Gardasee. Heute ist der Café-Besuch nur noch eines seiner Rituale. Er bestellt den Cappuccino schon beim Reinkommen und trinkt ihn mit großen Schlucken aus, den Milchschaum leckt er aus der Tasse. Keine halbe Minute dauert das, dann sagt er: „Geh mer wieder?“

Micha ist immer dabei

Noch nehmen die Stieglers ihren Micha überall hin mit. Auf dem Computer haben sie Bilder vom vergangenen Jahr gespeichert. Am Strand in Italien. Auf dem Oktoberfest. In den Bergen. Immer ist Micha mit dabei.

Aber wie lange geht das noch?

Vater Stiegler hat sich im Internet informiert. Er hat die Broschüren gelesen. Er weiß, was bald schon droht. Inkontinenz. Aggressivität. Sprachstörungen bis zum Verstummen. Gehprobleme. Bettlägrigkeit. Schluckstörungen. „Wenn man des alles so liest … “, sagt Johannes Stiegler und fängt an zu schluchzen.

Die Schluckstörungen sind es auch, die bei vielen FTD-Kranken zum Tod führen. Essensbrocken landen in der Luftröhre und lösen eine Lungenentzündung aus. Manchmal bleibt die Todesursache aber auch unklar. Doch dass der Tod kommt, ist unabwendbar. Die Lebenserwartung vom Beginn der Krankheit an liegt im Schnitt bei sechs bis acht Jahren. Bei Jüngeren verläuft sie oft sogar noch schneller.

Johannes Stiegler kennt diese Zahlen. Und natürlich hat er sich das früher ganz anders vorgestellt: Dass der Micha sich um ihn kümmert, wenn er alt wird und stirbt. Jetzt muss der Vater seinen Sohn pflegen und zusehen, wie er stirbt. Sie halten das irgendwann nicht mehr aus, haben die Ärzte zu ihm gesagt. Aber Johannes Stiegler will seinen Micha so lange zu Hause behalten, wie es nur geht. Er hat sich ein Heim angeschaut. Er kann sich das nicht vorstellen. Er sagt: „Im Altenheim san Alte.“

Noch ist Micha Stiegler körperlich fit. Er ist ein kräftiger Kerl mit kurzen blonden Haaren. Ein schöner Mann. Jeden Nachmittag macht er Sport. Noch so ein Ritual. Er holt sich dann seine orangefarbene Jacke, zieht die Kapuze über den Kopf und läuft drei Mal ums Haus, den Berg auf der einen Seite hoch und auf der anderen wieder runter. Auch bei strömendem Regen.

Oben in Michas Zimmer steht ein Bild, das ihn bei einem Mountainbike-Rennen am Gardasee zeigt. Daneben sieht man ihn als Jugendlichen mit seinem Handballteam. Er steht in der Mitte der Mannschaft.

Von seinen alten Freunden ist nur einer geblieben, der ihn regelmäßig besucht.

Über Michas Bett hängen Fotos aus New York vor neun Jahren. Seine Exfreundin ist darauf zu sehen. Sie lächelt.

Mit der Krankheit ist die Beziehung in die Brüche gegangen, noch bevor die tödliche Diagnose feststand. Für Micha sind die beiden immer noch ein Paar.

* Alle Namen geändert.