Mit Joseph Fischer in der Tiefe des Raums

Elf Jahre ist es her, da spielte ich mit dem damaligen hessischen Umweltminister in einer Mannschaft. Es sollte nicht unsere einzige denkwürdige Begegnung bleiben

Joschka hat trotzdem den Daumen gehoben und mir zugeraunt: „Wenn der gekommen wäre,wärste durch gewesen …“„Der Herr Außenminister lässt fragen, ob er Sie und Ihre Begleitung nicht zu einem Glas Wein einladen darf …“

von ALBERT HEFELE

Erstmals traf ich Joseph Fischer an einem Samstag im Juni 1994. Sportanlage „Waldauer Wiesen“ in Kassel. Joseph kriegte den Ball von Doreen Meier. Vermutlich. Denn so ganz genau kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Er – der Ball – kam jedenfalls aus dem Mittelfeld. Joseph, den schon damals alle Joschka nannten, hatte sich zurückfallen lassen, weil ich doch über links kam. Dabei hab ich gar keinen linken Fuß. Das heißt, ich habe natürlich einen linken Fuß, ich hab sogar ein linkes Bein, aber nicht zum Spielen. Nur zum Bierholen, wie man so sagt. Aber ich musste für Thomas Rohrbach rein. Rohrbach – meine Güte! –, wer kennt den noch? Dabei war er irgendwann in den Sechzigerjahren vielleicht der interessanteste Spieler in der Bundesliga. Ein Flügelstürmer, ein Linksaußen gar, wie es ihn heutzutage nicht mehr gibt. Er sah gut aus und war politisch korrekt. Daher auch Linksaußen.

Joschka hatte damals auch schon einiges auf den Rippen. Das gute Leben als hessischer Umweltminister, vielleicht auch der Stress – jedenfalls war Joschka ganz schön mollig. Spielen konnte er aber trotzdem ganz passabel, das musste man ihm lassen. Wie mich Joschka damals langschickte, das war jedenfalls aller Ehren wert.

Ich sage „Joschka“ nicht aus Wichtigtuerei, sondern weil wir damals per Du waren. Wir, die wir den grünen Rasen teilten. Allesamt Sportskameraden von der Prominentenmannschaft „Satanische Fersen“.

Wir Prominenten hatten uns vor dem Spiel gegen „Dynamo Windrad“ zum Gruppenfoto aufgestellt und locker geplaudert, da waren wir alle per Du. Auch Joschka, der direkt neben mir stand und etwas fragte wie: „Was glaubst du, was sich die Frauen beim Freistoß beim Frauenfußball so alles zuhalten …?“ – eine Anspielung darauf, dass wir Männer angesichts eines Freistoßes immer reflektorisch zum Gemächt greifen; und auf die ehemalige DDR-Nationalspielerin Meier, die damals dabei war bei den „Satanischen Fersen“, das weiß ich noch genau. Auch wie wir frech geschmunzelt haben, anschließend.

Auf dem Gruppenfoto, das ich immer noch wie einen Schatz hüte, sieht man Joschka, den späteren Weltpolitiker, mit genau diesem frechen Schmunzeln. Und mich auch. Weil wir beide genau dann, als der Fotograf auf den Auslöser drückte, über Frauen im Fußball redeten. Und was sie sich so alles zuhalten.

Na ja, Joschka würde eventuell alles abstreiten, aber ich hab mir jedes Wort gemerkt. Damals schon. Obwohl Joschka weltweit noch nichts Besonderes war, umwehte ihn irgendwie bereits die Aura seiner zukünftigen Bedeutung. Manche Menschen strahlen Bedeutung aus, auch wenn sie in T-Shirt und kurzen Hosen daherkommen.

Darum weiß ich noch jedes Wort, das wir gesprochen haben. So schwer ist das auch nicht. Unsere Konversation hielt sich in Grenzen. Nur das mit dem Frauenfußball, und dann noch: „Wenn der gekommen wäre, wärste durch gewesen …“ Das hat er original zu mir gesagt. Ich bin nämlich ideal gestartet seinerzeit – als er mich langgeschickt hatte. Kein Abseits. Ich ab in den freien Raum. Joschka zieht auf und schickt die Kugel genau auf den richtigen Weg. Vor mir: freie Wiese bis zum Tor. Leider hat dann ein Unprominenter von „Dynamo Windrad“ irgendwie noch seine Gräten dazwischengekriegt, und ich bin umsonst durchgestartet. Aber Joschka hat trotzdem den Daumen gehoben (daran glaub ich mich ziemlich sicher zu erinnern) und mir zugeraunt: „Wenn der gekommen wäre, wärste durch gewesen.“

Ich habe, glaube ich, genickt. Oder auch den Daumen gehoben. Jedenfalls hat mir Joschka damals ganz tief ins Sportlerauge geblickt. Bitte merken. Das wird später noch mal von Bedeutung sein.

Das Spiel war dann bald aus. Nach einem verunglückten Fallrückzieher vor dem Tor der Windrädler war ich für den Rest des Tages nicht mehr zu gebrauchen, total verausgabt. Da waren die anderen – Greser, Lenz, Gsella, Harald Fischer selig und wie sie alle hießen – klüger und konnten sich noch betrinken. Das waren Zeiten!

Dann, Jahre später, hatte sich mein Leben gründlich geändert. Privat und so weiter, tut nichts zur Sache. Kassel war meilenweit weg, Joschka sowieso und ich mit einer neuen Flamme auf dem romantischen Trip. Sizilien, Taormina. Wer es kennt, weiß, wovon ich rede. Teatro Greco, das römische Theater. Man sitzt sinnend auf der Tribüne und überblickt die seit Jahrhunderten stillgelegte Bühne, die unterirdischen Kammern, in denen einst die Löwen auf ihre Beute warteten … war das so? Egal.

Jedenfalls leuchtete im Hintergrund der schneebedeckte Ätna und drohte sozusagen scherzhaft mit den harmlos über seinem Krater dampfenden Wölkchen: „Ich könnte, wenn ich wollte …“

Und abends streunt man, während der Einheimische die Mandoline schlägt, Wange an Wange durch romantische Gässlein. So auch ich mit meiner neuen Flamme. Da einen Vino, dort einen Cappuccino mit Sambuca. Immer vorbei an einer Pizzeria mit kleinem Gärtlein, in deren Bäumen bunte Lichter hingen. Aber irgendwas war los an diesem Abend. Irgendwas war anders. Die deutschen Urlauber bewegten sich seltsam, mit verrenkten Häuptern, verschlepptem Schritt und glasigen Augen. Ich war etwas ratlos, weil ich nicht wusste, was die veränderte Gang- und Blickart der Flanierenden zur Ursache hatte. Bis mir meine neue Flamme den Ellbogen in die Rippen stieß und zischte: „Der Fischer ist da!“, während sie, bedeutsam die Augäpfel rollend, vermittels eindeutiger Kinnbewegungen auf das Gärtchen der Pizzeria deutete. – „Welcher Fischer?“

Ich stand auf der Leitung. Ich kannte mehrere Fischer. Harald Fischer selig, der seinerzeit auch im Prominententeam war, und einen ehemaligen Kollegen namens Jakob. Ich drehte mich rasch um die eigene Achse, konnte aber keinen dieser Fischer erblicken. „Der Fischer!“, präzisierte meine neue Flamme. Da drehte ich mich zäh um, und da saß er: Joseph „Joschka“ Fischer.

Mein Fischer. Hockte dort in dem Gärtchen in Taormina und hatte etwas auf dem Teller, das ich nicht erkennen konnte. Jemand saß bei ihm, die damalige Freundin oder Frau.

Und er – Joseph – sah mich an, eindeutig. Ich zögerte, für einen Moment zweifelnd, ob er wirklich mich ansah. Dann aber nickte er, leicht und auch noch etwas unentschlossen, in meine Richtung. Ich drehte mich um, aber hinter mir war niemand. Er meinte eindeutig mich! Da hob ich, noch scheu, leicht grüßend den Arm und er – Fischer! – schmunzelte sofort das Schmunzeln des Eingeweihten. Politiker haben ja ein prima Gesichtergedächtnis. Er deutete mit einem dicken Zeigefinger auf mich und rief aus seinem Gärtlein zu uns herüber: „Alfred … nein, Albert! Stimmt’s?“

Ich nickte, nun doch etwas geschmeichelt: „Kassel! ‚Satanische Fersen‘!“ – „Au ja. Genau! Windrad!“ Er patschte leicht in die Hände und schien wirklich erheitert zu sein.

Man wundert sich doch immer wieder, wenn sich bedeutende Menschen über ganz banale Dinge erheitern. Mir jedenfalls ging es so. Ich wurde nun lockerer und deutete auf meine neue Flamme: „Sylvia … paar Tage ausspannen …“

Er nickte wieder und zeigte mit dem dicken Daumen auf seine sehr attraktive Begleiterin: „Meine hat keine Lust mehr auf Politik.“ Wir kicherten stumm, wie alte Bekannte. In der Zwischenzeit hatte sich ein kleiner Kreis von deutschen Urlaubern um uns geschart. Sie betrachteten und fotografierten wechselweise den Vizekanzler und Außenminister Fischer – und mich.

Das war mir etwas peinlich, und ich winkte Joschka zum Abschied zu: „Bis bald! Schöne Ferien!“ Die neue Flamme sah mich entgeistert an: „Schöne Ferien? Er winkt dir!“ – „Jaja, gut und recht, aber jetzt muss wieder Ruhe sein, sonst ist es ihm peinlich. Ich mag das nicht.“ – „Entschuldigung, Herr … Albert?“, erklang plötzlich hinter mir eine sonore Stimme. Ich drehte mich etwas widerwillig um, man mag ja nicht von jedem mit Vornamen angesprochen werden: „Ja?“ Ein junger, sehr breitschultriger Mensch mit kurzen Haaren und einem Gerät im Ohr: „Der Herr Außenminister lässt fragen, ob er Sie und Ihre Begleitung nicht zu einem Glas Wein einladen darf …“ – „Glas Wein? Na ja, ich weiß nicht …“ – „Bist du noch bei Trost?“, meine Flamme rammte mir wieder den Ellbogen in die Seite. Ich überlegte nur kurz, denn eigentlich hatte sie ja Recht – warum eigentlich nicht?

Der junge breitschultrige Herr sprach dann kurz in seinen Ärmel, und ich, ich folgte ihm, mehr meiner neuen Flamme zuliebe. Frauen mögen das ja. Prominenz und so. Macht. Joschka war aber ganz in Ordnung. Aus dem Glas sind dann drei Flaschen geworden, und wir haben lustig geplaudert – Joschka kann sehr amüsant sein – und uns in Berlin verabredet. Na ja, ob ich da hingehe? Weiß ich noch nicht.

Eine schöne Geschichte, die ich natürlich an jedem Stammtisch mit Begeisterung erzähle.

Oder wenigstens erzählen würde, wenn sie denn wahr wäre. Ist sie aber leider nicht, zumindest nicht ganz: Kassel war genau so, wie ich’s erzählt habe. Und das Erlebnis in Taormina stimmt auch, der Joschka war tatsächlich da. Auch haben wir uns kurz angeguckt. Ganz kurz. Dann bin ich aber rasch weitergegangen, weil ich es nicht richtig finde, wenn man die Leute so anglotzt. Prominenz hin oder her.

Vielleicht hätte ich wirklich winken sollen, denke ich manchmal. Nur so. Vielleicht hätte sich Joschka ja wirklich erinnert, an mein Gesicht und meinen Namen. Vielleicht hätte er sich auch gefreut, jemanden aus der guten, alten Zeit zu treffen. Als er noch nicht Weltpolitiker war und nicht überall angegafft wurde. Vielleicht hätten wir wirklich geplaudert und ich wäre sein Redenschreiber geworden. Oder Pressesprecher.

Vielleicht war das einer der seltenen Momente, in denen sich entschiedet, wie das weitere Leben verlaufen wird. Eine Chance, wie man sie im Leben nur einmal bekommt. Wenn das so war, dann habe ich’s wohl vergeigt.