Studie zu medizinischen Leitlinien: Intransparente Befangenheit

Leitlinien helfen Ärzten, die richtige Behandlung zu wählen. Nicht immer ist gewährleistet, dass diese Empfehlungen von unabhängigen Experten kommen.

ÄrztInnen stehen zunehmend unter massivem Druck. Dabei fehlt häufig die Zeit, sich mit Fortentwicklungen und Fachpublikationen zu beschäftigen. Bild: dpa

An der Universität Marburg gibt es ein Institut für Medizinisches Wissens-management, eingerichtet im Jahr 2009 von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Institutsleiterin Ina B. Kopp und ihre Mitarbeiterin Cathleen Muche-Borowski wissen: „Dem einzelnen Arzt ist es unter dem Zeitdruck des klinischen Alltags kaum noch möglich, neue Entwicklungen und Publikationen regelmäßig zu verfolgen und methodenkritisch zu bewerten.“

Eine qualitativ gute Orientierung könnten systematisch entwickelte Leitlinien bieten, schreiben Kopp und Muche-Borowski. Solche Empfehlungen, etwa zum Einsatz bestimmter Therapien oder Wirkstoffe, sind zwar nicht rechtsverbindlich, aber sie könnten in der Ärzteschaft Akzeptanz finden, „wenn sie vertrauenswürdig erscheinen, praxisrelevant und leicht verfügbar sind“.

Zugang und Verfügbarkeit stellen im Zeitalter des Internets wohl kein Problem mehr dar. Aber ein wesentlicher Kritikpunkt, den skeptische Fachleute immer mal wieder benennen, sei – neben Unsicherheit über die methodische Qualität wegweisender Papiere – die „mangelnde Transparenz möglicher Interessenkonflikte von Leitlinienautoren und -herausgebern“.

Eine erste empirische Bestandsaufnahme erschien jetzt im Deutschen Ärzteblatt (DÄB). Ein achtköpfiges Team um den Sozialwissenschaftler Thomas Langer hat die AWMF-Datenbank durchforstet und Leitlinien deutscher Fachgesellschaften analysiert, die zwischen August 2009 und Dezember 2011 gültig waren.

Keine Selbstverständlichkeit

Die Bilanz von Langer und KollegInnen zeigt, dass Transparenz noch längst keine Selbstverständlichkeit ist – und Interessenkonflikte offenbar weit verbreitet sind: „Von insgesamt 297 untersuchten Leitlinien wurden in 60 Leitlinien (20 Prozent) die Interessenkonflikterklärungen von den Autoren offengelegt.“ 1.379 Personen machten Angaben, fast jede/r Zweite, nämlich 680 AutorInnen, „deklarierten Sachverhalte, die auf einen finanziellen Interessenkonflikt hinwiesen“.

Leitlinien zu Diagnostik- und Therapieverfahren, Vorbeugung und Nachsorge gibt es mittlerweile für viele Krankheiten. Wer gezielt nach einer Leitlinie sucht oder sich zunächst einen Überblick anhand medizinischer Fachgebiete verschaffen will, sollte www.arztbibliothek.de anklicken.

Dieses Internetportal, betrieben vom Ärztlichen Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ), listet viele der verfügbaren Leitlinien auf, die von wissenschaftlichen Organisationen und Fachgesellschaften veröffentlicht worden sind: Die Bandbreite reicht von A wie Allergologie bis Z wie Zahnmedizin. Wortlaut und Geltungsdauer von Leitlinien zu über 200 verschiedenen Krankheitsbildern sind ebenso dokumentiert wie die Namen der herausgebenden Institutionen.

Falls vorhanden – also längst nicht bei jedem Empfehlungspapier –, erhält man auch Einblick in die Erklärungen der Leitlinien-autorInnen über persönliche Interessenkonflikte. Das ÄZQ ist eine gemeinsame Einrichtung von Bundesärztekammer (BÄK) und Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV). (kpg)

Was damit im Einzelnen gemeint ist, skizzieren die Studien-AutorInnen auch: 522 Leitlinien-VerfasserInnen gaben an, sie hätten finanzielle Zuwendungen seitens der Medizinindustrie für Vortrags- und Schulungstätigkeiten bekommen. 403 Personen offenbarten eine bezahlte Gutachter- oder Beratertätigkeit, 316 hatten Geld für Forschungsvorhaben erhalten.

Und auch diese geldwerte Gemengelage kommt vor: „Eigentümerinteressen in Form von Patenten wurden von 18 Autoren (1,8 Prozent), der Besitz von Geschäftsanteilen in 32 Fällen (2,3 Prozent) angezeigt.“ Langer und KollegInnen meinen, dass Interessenkonflikte „nicht per se problematisch“ seien. Kritisch werde es jedoch, wenn man von einer „unangemessenen Beeinflussung“ der Leitlinie ausgehen müsse oder auch nur ein solcher Anschein entstehe.

Wo genau die Grenze liegt, sei gegenwärtig unklar: „Es fehlen Vorgaben, wann ein Interessenkonflikt als problematisch angesehen werden muss und welche Reaktionen in einem solchen Fall angemessen sind.“ Standards für die Bewertung und das Management solcher Konfliktlagen „sollten dringend entwickelt“ werden, mahnen die ForscherInnen im DÄB an.

„Befangene“ Fachleute

Die AWMF arbeitet bereits daran. Ihre Empfehlungen aus dem Frühjahr 2010 sehen zum Beispiel vor, dass „befangene“ Fachleute nicht beim Erstellen und Bewerten von Leitlinien mitwirken sollen. „Sie haben, sofern auf ihr Wissen nicht verzichtet werden kann, den Status von externen Experten“, rät die AWMF an. Zudem müsse transparent gemacht werden, mit welchen Verfahren publizierte Interessenkonflikte erfasst und bewertet wurden.

Bis dies lückenlos und für jedermann verständlich geschieht, dürfte noch unbestimmte Zeit vergehen. Die im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichte Analyse belegt immerhin, dass nach Einführung der AWMF-Regeln Interessen-konflikterklärungen „deutlich häufiger abgegeben“ werden: 95 Prozent der seitdem publizierten 41 Leitlinien enthalten solche Angaben, zuvor geschah dies bei lediglich 8 Prozent der untersuchten, älteren 256 Leitlinien.

Die neue Offenheit dokumentiert nach Einschätzung der Studien-MacherInnen allerdings auch, dass die AWMF-Empfehlungen bislang nicht dazu geführt haben, die Beteiligung von WissenschaftlerInnen mit finanziellen Interessenkonflikten zu verringern.

Ein Tipp, den nicht nur MedizinerInnen, sondern auch ratsuchende PatientInnen beherzigen können, steht im Fazit der Analyse: „Nutzer von Leitlinien sollten kritisch prüfen, welche Informationen zum Umgang mit Interessenkonflikten eine Leitlinie enthält und für welche Empfehlungen die Interessenkonflikte der beteiligten Personen von Bedeutung sein könnten.“

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