Obsessives Interesse am Sexskandal: Das kollektive Gelüst
Die Debatte um ein Enthüllungsbuch über Dominique Strauss-Kahn zeigt, dass Frankreichs Selbstverständnis in der Krise steckt.
Es ist erstaunlich: Frankreich schlingert in eine Krise, aber die Öffentlichkeit lässt sich von einem Scoop in Bann schlagen, der ihr Blickfeld auf das Schlüsselloch an der Schlafzimmertür von Dominique Strauss-Kahn zusammenschrumpfen lässt. Vielleicht ist es aber auch naheliegend: In den liberalen Gesellschaften unserer Zeit ist der Sex oft nicht mehr das, was verdeckt wird, sondern ist selbst zum verdeckenden Feigenblatt geworden.
Der Medienrummel um das Buch von Marcela Iacub, in dem die eigenwillige Autorin „ihre Geschichte mit DSK“ zu liefern verspricht, passt insofern zu einem anderen Knüller, der kaum zwei Wochen zuvor – gleichfalls aufgrund seiner latenten Schlüpfrigkeit – die Nachrichtenkonsumenten hypnotisiert hatte.
Da war die Meldung, zu der Vagina-Darstellung auf dem berühmten Gemälde „Der Ursprung der Welt“ von Gustave Courbet sei nun auch das dazugehörige Gesicht aufgefunden worden. Zweimal dieselbe Obsession, nur spiegelverkehrt: Das entdeckte Bild fügt zu einem bekannten Geschlechtsorgan das unbekannte Gesicht hinzu, der „explosive Bericht“ zum bekannten Gesicht das unbekannte Geschlechtsorgan.
Die Neuigkeit in Bezug auf das Courbet-Gemälde musste leider nach wenigen Tagen dementiert werden. Und auch der Aufklärungswert der Geschichte über Strauss-Kahn ist äußerst zweifelhaft. Zu undurchschaubar mischen sich literarischer Anspruch und kommerzielles Interesse ineinander. Marcela Iacub, in Frankreich mehrfach als Verfechterin einer grenzenlosen individuellen Freiheit publizistisch hervorgetreten, wagte mit ihrem Buch einen weiten Spagat, der nicht gut gehen konnte.
Das Linke Bein in der Lüge
Ihr linkes Bein stellte sie in die Lüge: Sie simulierte ein erotisches Interesse an Strauss-Kahn, um zu Recherchezwecken eine mehrmonatige Beziehung einzufädeln. Ihr rechtes Bein streckte sie in die Wahrheit – den „wirklichen“ Strauss-Kahn wollte sie im Spiegel des Sexes (als wäre Beischlafen tatsächlich, wie die alttestamentarische Bezeichnung es suggeriert, „Erkennen“) zu Gesicht bekommen.
Über Strauss-Kahn lehrt dieses neue Kapitel seiner Skandalgeschichte nur, was man ohnehin schon wusste: Im Konflikt zwischen Lustprinzip und Realitätsprinzip trägt bei ihm mit ziemlicher Sicherheit Ersteres den Sieg davon.
Verleger profitieren vom "schmutzigen" Sexleben
Interessanter ist es vielleicht, noch einmal genauer zu betrachten, warum Verleger so sicher darauf spekulieren können, dass zahlreiche Franzosen neue Details über das „schmutzige“ Sexualleben ihres ehemaligen zukünftigen Präsidenten wissen wollen.
Das kollektive Gelüst auf Enthüllungen, das den journalistisch-literarischen „Feldstudien“ (so Marcela Iacub in einem Interview) im Bett des einstigen IWF-Direktors so zahlreiche Leser zuführt, ist „überdeterminiert“: Zum Basistrieb Voyeurismus kommt die spezifische Schubkraft eines weitverbreiteten Ressentiments gegen die Politikerkaste hinzu.
Zwischen obsessivem Ineteresse am Sex und Neid
Es ist in diesem Kontext interessant, daran zu erinnern, dass in der französischen Geschichte für diese Mischung aus obsessivem Interesse an Sexskandalen und Zurückweisung der politischen Eliten ein sehr bekanntes Beispiel existiert: die Flut von pornografischer Pamphletliteratur, die kübelweise in den letzten Jahren des Ancien Régimes über Marie Antoinette ausgeschüttet wurde.
Die öffentliche Anprangerung der „fureurs utérines“, der unpopulären Frau des Königs, zielte damals mehr oder weniger direkt auf den Aufruhr, der dann schließlich als französische Revolution Geschichte machte.
Phantasmen aus dem Ancien Régime
Man könnte Balzac zitieren: „In allen Epochen, in denen große Kämpfe zwischen den Massen und der Macht stattfinden, schafft sich das Volk eine monströse Figur.“ Im Falle der Königin war es aber nicht mehr als ihre „unerträgliche Leichtigkeit“, an die die sexuellen Phantasmen einer unzufriedenen und vielleicht auch neidischen Bevölkerung andocken konnten. Strauss-Kahn liefert durch seine Skandale selbst den Stoff, aus dem das Monsterbild des libertären Perversen zusammengefügt wird.
Und eine Vorbereitung von Aufruhr oder gar Revolution aus der medialen Ausschlachtung seiner Gruppensexpartys herauslesen zu wollen, wäre absurd: Das die 5. Republik bedrohende Risiko – das unter François Hollande gewiss nicht geringer geworden ist – ist nicht die Revolution, sondern der Triumph des Populismus.
Aber wie einst Marie Antoinette fungiert Strauss-Kahn in einer Situation, in der die Legitimitätswerte der Regierenden im freien Fall sind, als Kristallisationspunkt für die Stigmatisierungslust, mit der viele Menschen sich für ihr krisenbedrohtes Leben entschädigen. Vielleicht kommt auch noch etwas anderes dazu.
Der unaufhaltsame Niedergang
Im Diskurs der Franzosen über sich selbst ist seit einigen Jahren ein Leitmotiv, dass „die Franzosen sich nicht mehr lieben“. Anlass zu diesen Kommentaren gibt das relativ neue Phänomen, nach dem das Land sich ausgiebig mit den dunklen Seiten der eigenen Geschichte (Vichy, Kolonialismus) auseinandersetzt und sich überdies auf der Bahn eines unaufhaltsamen „Niedergangs“ wähnt.
Angesichts solcher nationaler Selbstzweifel stellt sich die Frage, ob die exzessive Beschäftigung mit dem anstößigen Sexualverhalten eines ihrer Repräsentanten nicht auch von dem verzagten Verdacht genährt wird, dass neben andern Vorzügen nun also auch der weltweit beneidete französische Hedonismus im Verfall sei.
Am Transparenzpranger
Der „Transparenzpranger“, an dem Strauss-Kahn steht, wäre so gesehen so etwas wie ein kollektives masochistisches Grübeln darüber, ob in Frankreich auch „l’amour“ auf den Hund (auf das „Schwein“) gekommen ist. Das Sofitel- und das Carlton-Hotel wären demnach für die erotische Lebenskultur der Franzosen ein analoges Menetekel, wie es die Banlieues für ihren Republikanismus sind.
Die neue Strauss-Kahn-Affäre, die eigentlich nur eine Fußnote zu der bisherigen Skandalgeschichte ist, hat nun die Besonderheit, dass in ihr ein Wechsel der bisherigen kollektiven Attitüde eingetreten ist. Die Öffentlichkeit – ohne eigentlich anders über die Person selbst zu denken – ficht plötzlich an seiner Seite für eine „französischen Besonderheit“, die seit dem New Yorker Skandal gefährlich wankt.
Das traditionelle französische Tabu, das Presseberichte über private Affären von Politikern verbietet – ein Tabu, von dem Präsidenten wie Giscard d’Estaing, Mitterrand und Chirac reichlich profitiert hatten – wurde plötzlich als suspekte „Omertà“ (Schweigepflicht in einer kriminellen Vereinigung), ohne die ein Strauss-Kahn niemals Karriere hätte machen können, neu bewertet.
Affäre herbeigeführt, um darüber zu schreiben
Politikern droht seitdem, dass sie – frei nach Hans Christian Andersen – von einem Moment auf den anderen in des Kaisers neuen Kleidern dastehen. Das Buch von Marcela Iacub stellt einen Kulminationspunkt des neuen Transparenzdiktats dar: Eine Affäre wurde nun eigens herbeigeführt, um über sie zu schreiben. Aber der Paria klagte, und ein großer Teil der Öffentlichkeit findet sein Aufbäumen gegen die „angelsächsischen“ Sitten gerechtfertigt.
Erneut unter Blitzlichtgewitter in einem Gerichtsgebäude, nun aber nicht als Angeklagter, sondern als selbstbewusster Ankläger der profitgierigen Deregulierer von Intimität, darf Dominique Strauss-Kahn in diesen Wochen mit einer winzigen Parzelle seiner Existenz einen Moment lang zumindest der Schatten des Präsidenten sein, der er ohne seine Skandalgeschichte wahrscheinlich jetzt wäre.
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