: Überleben im Haifischbecken
KONTEXT Vor 130 Jahren ist Karl Marx gestorben. Eine präzise Biografie des US-Historikers Jonathan Sperber beurteilt Leben und Werk im historisch-politischen Zusammenhang
VON RUDOLF WALTHER
Pünktlich zu Marx’ 130. Todestag am 14. März erscheint eine rund sechshundert Seiten starke Biografie. Da kann man sich schon fragen, ob das sinnvoll ist und ob es zu Marx noch so viel zu sagen gibt – immerhin liegen neuere Biografien von David McLellan und Francis Wheen vor, die so wenig veraltet sind wie ältere Standardwerke. Die Biografie des amerikanischen Historikers Jonathan Sperber zerstreut solche Zweifel gründlich. Und das hat mehrere gute Gründe.
Sperber will den Lesern Marx nicht als Erfinder des Marxismus nahebringen, sondern stellt dessen Leben und Werk in den historischen Kontext. Durch diese Historisierung erscheint Marx in dem Zusammenhang, in dem er wirklich stand und nicht in dem Kontext, den ihm spätere Generationen zuwiesen. Historisch-politisch gesehen, war Marx ein Zeitgenosse der Französischen Revolution und ihres Abschlusses durch Napoleon. Als Theoretiker prägten ihn die Hegel’sche Philosophie und die klassische Nationalökonomie von Smith bis Ricardo, aber auch die modernen Naturwissenschaften.
Interpretationsdschungel
Zur konsequenten Historisierung gehört auch, dass sich Sperber mit der fast unüberschaubaren Zahl von Marx-Interpretationen in der Sekundärliteratur nur so weit auseinandersetzt, wie es unumgänglich ist. Natürlich wäre die Erwartung überzogen, Sperber präsentierte einen rundum neuen Marx. Aber dadurch, dass er sich bei seiner Darstellung eng an dessen Schriften und Briefe hält, kann er Leben und Werk präziser darstellen als alle seine Vorgänger. Sperbers Hauptquelle ist das mit 57 Bänden knapp in der Mitte angelangte, „gewaltige Projekt“ (Sperber) der historisch-kritischen Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) mit ihren Text- und Kommentarbänden, die eine wahre Fundgrube darstellen und viele Details genauer dokumentieren als bisherige Werkausgaben.
Sperber gliedert seine Biografie nach den Funktionen beziehungsweise Tätigkeiten, die Marx als Redakteur, Revolutionär und Theoretiker ausübte, zeigt aber auch die private Seite des Emigranten, Beobachters, Ehemanns, Familienvaters und Veteranen. Erst durch die MEGA-Bände, auf die sich Sperber stützt, gewinnt Marx’ frühe Tätigkeit als Redakteur der Rheinischen Zeitung ein klareres Profil.
Marx vertrat keine „communistischen Ideen“ zwischen Oktober 1842 und dem Verbot der Rheinischen Zeitung ein halbes Jahr später. Er suchte die Nähe zur liberalen Kölner Mittel- und Oberschicht, die ihm mit 1.000 Talern einen Studienaufenthalt in Paris finanzierte. Aufgrund der Denunziation durch den preußischen Botschafter wurde Marx aus Paris ausgewiesen. Erst im dreijährigen Exil in Brüssel kam Marx über Moses Heß, Joseph Moll, Karl Schapper und dem „Bund der Gerechten“ in näheren Kontakt mit kommunistischen und sozialistischen Ideen. In dieser Zeit begann er mit dem Studium der politischen Ökonomie, aber das Werk, das er sich vornahm zu schreiben, wurde nie fertig. Vielmehr häufte Marx in den folgenden 40 Jahren einen riesigen Berg an Exzerpten, Entwürfen und fragmentarischen Manuskripten an, aus dem nur zwei Texte von ihm selbst zum Druck freigegeben wurden: Die Skizze „Zur Kritik politischen Ökonomie“ (1859) und der erste Band des „Kapitals“ (1867). In der MEGA umfassen die Manuskripte 15 Bände in 22 Teilbänden mit etwa 12.000 Seiten. Die Vorstellung von einem vollendeten Hauptwerk „Kapital“ in drei Bänden geht auf Friedrich Engels zurück und wurde später von Marxisten-Leninisten als Dogma verkündet. Tatsächlich gibt es kein Marx’sches Hauptwerk, sondern nur Ansätze dazu.
Ähnlich verhält es sich mit der „Deutschen Ideologie“, die erst in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts zur Grundlage des „historischen Materialismus“ erklärt wurde. Es existiert kein Manuskript mit dem Titel „Deutsche Ideologie“. Nur im Titel eines Kapitels kommt das Wort vor. Das als „Deutsche Ideologie“ bezeichnete Konglomerat diente der Selbstverständigung und der Abgrenzung Marx’, Engels’ und Moses Heß’ von den Junghegelianern. Auf rund zwei Dritteln der über 500 Manuskriptseiten beschäftigten sich die drei Autoren in polemischen „Wortklaubereien“ (Franz Mehring) mit Max Stirner. In dieser Theorieproduktion im politischen Handgemenge kritisierte Marx auch Ideen und Konzepte anderer Autoren, denen er früher nahestand – etwa Feuerbachs Idee des „Gattungswesens“.
In der Revolution von 1848/49 spielte Marx als Chefredakteur der Neuen Rheinischen Zeitung im Rheinland eine bedeutende Rolle und vertrat einen „politischen Realismus“ gegen radikale Träumer. Ab Juni 1848 hatte er mit 1.500 Talern Jahresgehalt die „einträglichste Stellung“ seines Lebens. Allerdings nur für ein Jahr, danach musste der Staatenlose ins Exil nach London, in dem er sich und seine Familie nur mit Hilfe seines Freundes Friedrich Engels über Wasser hielt.
Im Haifischbecken des Exils, wo sich viele Spitzel und Denunzianten tummelten, biss sich Marx durch und zog sich schließlich 1853 aus dem tagespolitischen Getümmel zurück: „Ich habe bei der nächsten Gelegenheit vor, öffentlich zu erklären, dass ich mit keiner Partei etwas zu tun habe.“ Er benützte seine enorme Arbeitskraft zum Studium der Ökonomie, das er jedoch nie zu einem befriedigenden Ende brachte – auch deshalb, weil er mit journalistischen Arbeiten seinen Lebensunterhalt verdienen musste. Publizistischen Erfolg erzielte Marx einzig mit seiner Schrift zum Staatsstreich Napoleons III., „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“ (1852/1869), und zur Pariser Kommune, „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ (1871) – beides „literarische Meisterwerke“ (Sperber) und herausragende Beispiele politischer Analyse.
Sperbers Verdienst ist es, dass er Marx als einen politischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts darstellt, der einerseits noch in der geschichtsphilosophischen Tradition Hegels stand und Wissenschaft als Kritik verstand, andererseits rühmte er den naturwissenschaftlich fundierten Positivismus als Fortschritt. – Ein glänzendes Buch.
■ Jonathan Sperber: „Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert“. Aus dem Englischen von Thomas Atzert, Friedrich Griese und Karl Heinz Siber. Verlag C. H. Beck, München 2013, 634 S., 29,95 Euro