Festival: Mit dem Ungewissen spielen

Die zwölfte Ausgabe des Kinder- und Jugendtheater-Treffens „Augenblick Mal!“ überrascht mit dokumentarischen und tänzerischen Ansätzen.

In der Disziplinierungsanstalt: „The Blue Boy“, schmerzvolles Theater aus Irland Bild: Daniel Keane

Ein Zeigefinger kann sehr streng aussehen. Zeigefinger stechen unerbittlich in die Luft in „The Blue Boy“, einem Stück Tanz- und Dokumentartheater aus Irland. Grau und steif sind die Anzüge der Tänzer, ihre Gesichter hinter erstarrten Kindermasken verborgen. Sie sitzen am Tisch, ihre Hände fahren synchron an den Hals in einer würgenden Geste, dann falten sie sich zum Beten, wischen über den Tisch, Köpfe schlagen auf die Tischplatte. Es ist ein gnadenloses und trauriges Szenario einer Disziplinierungsanstalt, die keinen Funken Individualität duldet, das die Gruppe Brokentalkers aus Dublin in „The Blue Boy“ aufführt.

Das Gastspiel aus Irland wird zweimal aufgeführt im Rahmen von „Augenblick Mal!“, ein Festival des Theaters für junges Publikum. „The Blue Boy“ ist ein außergewöhnliches Stück. Es verbindet dokumentarisches Material und Erzählungen über den qualvollen Alltag in einem katholischen Kinderheim in Irland mit Tanzsequenzen, die die Einsamkeit der Kinder, ihren Schmerz und ihre Abstumpfung in exakte und knappe Bilder übersetzen.

Kluge Konstruktion

Aus den Texten erfährt man erst langsam, wovon das Stück handelt. 2011 kam in Irland der „Ryan Report“ heraus, der das Schicksal von zahlreichen vernachlässigten und missbrauchten Kindern aus den Heimen öffentlich machte. Die Stimmen, die man im Stück hört, sind oft die von Betroffenen, die erst nach Jahren darüber reden konnten, oder von Zeitzeugen, die nicht glauben wollten, was sie ahnten. In seiner klugen Konstruktion wandert das Stück der Brokentalkers durch die verschiedenen Schichten von Schweigen, Verdrängen, Erschrecken, Erkennen.

Das Festival „Augenblick Mal!“ findet zum 12. Mal in Berlin statt. Zehn Inszenierungen aus Deutschland und drei internationale Gastspiele werden bis zum 28. April im Theater an der Parkaue, in den beiden Grips-Spielstätten Hansaplatz und Podewil und in der Tischlerei der Deutschen Oper gezeigt. Was die Stücke aus Irland und Kroatien mit Produktionen aus Münster, Berlin, Hamburg, Bremen und Stuttgart dieses Jahr verbindet, ist die Aufgeschlossenheit gegenüber Tanz, Mehrsprachigkeit, dokumentarischen Strecken und biografischen Recherchen.

Das alles, sagt Helmut Wenderoth, der Sprecher der sechs Kuratoren des Festivals und einer der künstlerischen Leiter des Jugendtheaters Kresch in Krefeld, sei in den letzten Jahres erst allmählich im Jugendtheater angekommen. Tanz als Mittel der Selbsterkundung und Improvisationen als Instrument, Profis und Laien zusammenzubringen, hat zum Beispiel für zwei Produktionen aus Stuttgart („9 Leben“) und aus Münster („Young & Furious“) eine große Rolle gespielt. In Münster haben der Choreograf Samir Akika und der Regisseur Johannes Fundermann mit acht jungen Leuten aus Belgien und Deutschland eine Szenenfolge entwickelt, die mit dem Unfertigen und Ungewissen umgeht. Songs werden zitiert, na klar, aber auch politische Debatten und private Dramen in kurzen Sprachstrecken angedeutet. Aber alles bleibt auch brüchig, statt Behauptungen stehen Teststrecken im Raum. Der Tanz wirkt oft wie eine Option, dass da noch andere Wirklichkeiten möglich sind.

Mit Laborcharakter

Das sei das Wichtige am Theater, sagt Wenderoth, dass es als „Labor funktioniert, Verhaltensweisen auszuprobieren und zu erkennen, es könnte auch anders sein“. Dieser Laborcharakter trifft manchmal ganz wörtlich zu, etwa in dem Stück „Liquids“ aus Hamburg. Flüssigkeiten werden hier erkundet, auch von den um ein Bassin sitzenden Kindern, die im Nu von Zuschauern zu Mitspielern werden.

Einem Labor gleicht aber auch die Bühne des Zagreb Youth Theatre in ihrem Stück über Jugendgewalt „This could be my street“. Menschen werden auf vereinzelten Inseln aus Requisiten beobachtet, die erst einmal alle abstreiten, etwas mit der Ermordung eines Schülers zu tun zu haben. Bis man lernt, aus ihrem Abwehren etwas anderes herauslesen. Ein spannendes und herausfordernd gebautes Stück.

Was auffällt: Simpel gestrickt ist das Jugendtheater nicht von „Augenblick Mal“. Dass die Wirklichkeit nicht einfach ist, meint Helmut Wenderoth, glaubten die Regisseure und Performer eben zu Recht auch den Kindern und Jugendlichen zumuten zu können. Nicht nur in den Themen, sondern gerade auch in den offenen Formen. Angst vor Anstrengung darf man da nicht haben.

23. bis 28. April, www.augenblickmal.de

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