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Archiv-Artikel

Zwei in einer Wolle

Handschriften kunstvoll verwischen: „27 Points of View“ in der Tanzfabrik Berlin ist das Gemeinschaftswerkvon fünf Choreografen, die das Andeuten von unterschiedlichen Möglichkeiten mehr als die Entscheidung lieben

Eine Geste ist eine Geste ist eine Geste. Angela Schubot, Mitbegründerin der Berliner Gruppe „Two Fish“, kündigt sie immer vehementer an: „Eine Geste, die alles enthält, was Angela Schubot ist“. Das Publikum in der Tanzfabrik wartet gespannt auf diese eine Geste und es wartet vergeblich: Die jüngste unter den anwesenden TänzerInnen wendet sich von ihm ab, wirft einen Blick zurück über die Schulter, der sowohl Frage als auch Antwort sein könnte. Es kann diese einzigartige Geste nicht geben. Ihre Leerstelle offenbart vielmehr die Sehnsucht nach dem Unmöglichen: einer authentischen Bewegung auf der Bühne, einer Geste, die für sich selbst steht und gleichzeitig für den, der sie ausführt.

Für „27 Points of View“, ein Gemeinschaftsprojekt unter der Leitung von Helge Musial, kamen fünf Choreografen und Tänzer unterschiedlicher Generationen zusammen, die jeweils eine Choreografie für ihre Partner entwickeln sollten – eine ungewöhnliche Vorgabe mit ungewissem Ausgang. Herausgekommen ist ein Abend, der gerade die Unwägbarkeiten der Produktion, in die Performance integriert hat. Diskussionen über unterschiedliche Konzepte vom Timing werden ebenso auf die Bühne gebracht wie die zeitweise Abwesenheit Einzelner. Obwohl es durchaus verschiedene Episoden, Soli und Duette gibt, sind die persönlichen Handschriften der Choreografen eher zu erahnen als eindeutig zuzuweisen.

Bevor „27 Points of View“ jedoch seine ganze Intensität entfaltet, muss sich der Zuschauer durch einen zähen Auftakt quälen: Der Berliner Choreograf und Tanzpädagoge Ingo Reulecke, der für seine tanzökonomischen Überlegungen und Auseinandersetzungen bekannte Jochen Roller und Jess Curtis, der zwischen Berlin und San Francisco pendelt, stehen minutenlang stumm nebeneinander. Jemand aus dem Publikum ruft „Langweilig!“. Erst der überraschende Auftritt von Sommer Ulrickson, die bis dahin in der ersten Reihe saß, entschädigt für die anfängliche Geduldsprobe. Auf ironisch-witzige Weise wird die Selbstdarstellung konterkariert und die Schwere des ersten Teils aufgehoben. „27 Points of View“ ist ab da eine Arbeit, die jeglichen Narzissmus entbehrt.

Die Wirkung von Bewegung wird infrage gestellt, die Manipulierbarkeit des Körpers spielerisch erprobt. Wer ist eigentlich wer und wer imitiert wen? Die Fragwürdigkeit der eigenen Identität wird durch die Kostüme (Emily Chowdhury) verstärkt: Jeder trägt einen Pullover mit dem Namen eines anderen – Angela Schubot ist Jochen Roller und Jochen Roller Sommer Ulrickson. Der Pullover von Helge Musial ist eine Nummer zu groß – es passen sogar zwei hinein, wie Angela Schubot und Jess Curtis in einem eindringlichen Duett zeigen, das zwischen Begehren und Bedrängnis, zärtlicher Nähe und beklemmender Enge in komischer Unentschiedenheit hin- und herkippt. In einem Akt des Aufbegehrens löst sich Angela Schubot, schlüpft mechanisch in ihre Jeans und positioniert sich selbstbewusst im Raum, den Blicken der anderen ausgesetzt: einem vorwurfsvollen, einem unverständlichen, einem interessierten und einem gleichgültigen – vier verschiedenen Standpunkten.

Ebenso kommentierend ist die Musik von Matthias Herrmann, der die Themen der Performance – Transformation, Vergänglichkeit, Standpunkte – in seinen Texten aufgreift. Als Singersongwriter überzeugt Herrmann dabei ebenso wie als Urheber von clubtauglicher Elektronik. Unterstützt wird er zum Teil von Jess Curtis und Angela Schubot, die manchmal aus der Inszenierung als Tänzer hervortreten und einfach nur Musik machen.

ASTRID HACKEL

„27 Points of View“, 9.–11., 16.–18. 12. 20.30 Uhr in der Tanzfabrik Berlin, Möckernstr. 68