Tanzfestival in Hannover: Kontinuierlich gesponnene Fäden

Choreografien, die die Frage nach kultureller Identität stellen, präsentiert ab Donnerstag das Festival Tanztheater International in Hannover.

Chorische Gemeinschaft als Spiegel der Gesellschaft: Mickaël Phelippeaus "Chorus". Bild: Alain Monot

HANNOVER taz | Durchs kreative, hippe, arme, reiche New York schlägt sich die junge Tänzerin Frances Ha (Greta Gerwig) in Noah Baumbachs gleichnamigem, unlängst in die Kinos gekommenen Film. Fest eingeplant hat sie die Gage für die Weihnachtsvorstellungen ihrer Company für ihre Miete. Aber ihre Choreografin arbeitet schließlich doch nur mit anderen, professionellen Tänzern. Einen Bürojob schlägt Frances aus, weiß nicht, wohin mit sich. Und findet sich plötzlich im freien Sozialfall des 21. Jahrhunderts wieder: keine Wohnung, dafür iPhone und Macbook.

„In der freien Szene ist es sehr eng, was Selbstausbeutung und Zukunftsplanung betrifft“, bestätigt Christiane Winter. „Auch ich beobachte eine ökonomische Verarmung im künstlerischen Bereich.“ Seit Ende der 1980er-Jahre leitet Winter das Festival Tanztheater International, das ab Donnerstag an verschiedenen Orten in Hannover aktuelle Arbeiten internationaler ChoreografInnen präsentiert.

Ob das Festival für zeitgenössischen Tanz in diesem Jahr, in seiner 28. Auflage auf diese vertrackten, prekären Verhältnisse der freien Tanzszene eingeht? Schließlich setzt es auf Kontinuität, auf KünstlerInnen, die immer wieder nach Hannover kommen. „Das wäre überinterpretiert“, entgegnet Winter. Und doch zeigt Tanztheater International im Rahmen seiner Möglichkeiten, wie künstlerische Entwicklung über mehrere Jahre, gar Jahrzehnte in einem Festivalformat Platz finden können.

Für die Leiterin ist das weder Szenediskurs noch Sozialarbeit: Christiane Winter arbeitet einfach seit mehr als 20 Jahren so. Gerade für das Publikum sei es wichtig, sagt sie, die Verschiebung von choreografischen Ansätzen über längere Zeit mitverfolgen zu können. Das Wiederaufnehmen der Fäden, das Netz, das daraus entsteht – das könnte sich das Festival auf die Fahnen schreiben.

Junge ChoreografInnen am Werk

Gleich neben den Schriftzug „Think Big“, so heißt das Nesthäkchen des Festivals: Das dahinter sich verbergende Künstlerresidenzprogramm für junge ChoreografInnen findet dieses Jahr erst zum zweiten Mal statt. „Sowohl im freien Bereich, als auch im Stadt- und Staatstheaterbereich fehlt es an Nachwuchs, der versteht, auch mit größeren Gruppen umzugehen“, sagt Winter. „Think Big“ sei in Zusammenarbeit mit dem Ballett der Staatsoper Hannover der Versuch, jungen ChoreografInnen eine Möglichkeit zu geben, auch in größeren Zusammenhängen zu arbeiten.

Und wie funktioniert das genau? Drei junge ChoreografInnen arbeiten vier Wochen lang mit neun Tänzern zusammen und bestreiten am Ende eine Premiere des Festivals. So werden, wenigstens befristet, die ökonomischen Bedingungen der freien Szene und die eher statischen Strukturen des Balletts umgangen, was derlei Plattformen sonst nicht erlauben.

Auch im thematischen Schwerpunkt zeichnet sich dieses Jahr die Kontinuität ab: Die Beziehung zwischen Hip-Hop und zeitgenössischem Tanz, die schon 2012 das Programm prägte, reicht auch ins diesjährige Festival hinein. Schon beim ersten Youtube-Click erschließt sich, warum die Wechselwirkungen zwischen beiden Tanzszenen so reizvoll sind.

Auseinandergenommene Bewegungen

Beim Krumping zum Beispiel – ein Hip-Hop-Stil, der Anfang der 90er-Jahre entstanden ist – lässt sich nicht erkennen, ob es aus South Central L. A. kommt oder aus dem Dekonstruktivismus-Seminar: So aggressiv nehmen die Tänzer ihre eigenen Bewegungen bis zur Uneindeutigkeit auseinander. Der Choreograf Heddy Maleem war davon fast spirituell beeindruckt und zeigt am 2. September mit fünf Pariser Krumping-Tänzern „Éloge du puissant royaume“ in der Orangerie Herrenhausen.

Auch „Borderline“ von Sébastien Ramirez und Honji Wang, dort am 5. und 6. September zu sehen, denkt urbane Stile und zeitgenössischen Tanz zusammen. Überhaupt werden hier einige Grenzen untersucht: Zwischen zwei Liebenden, zwischen zwei kulturellen Hintergründen, zwischen zwei Begriffen von Tanz.

Der Blick liegt in diesem Jahr auch auf der Frage nach kultureller Identität. Dabei setzt das Programm nicht auf explizite Slogans zu Globalisierungskritik oder der Festung Europa, sondern erprobt das Potenzial des Tanzes, Herkunft und Fremde am Körper der Tanzenden selbst zu suchen.

Poesie der Sufi-Mönche

In der Produktion „Le Trait“ von Nacera Belaza etwa – eine von drei französisch-algerischen KünstlerInnen beim Festival – geht es zunächst nicht um Migration oder Geschichte. Die Choreografin verdichtet die Bewegungen von Sufi-Mönchen zu einer eigenen Poesie. Aber allein, dass Belaza mit algerischen Tänzern arbeitet, sagt Winter, gebe der Produktion noch einmal eine ganz andere Dimension.

Ebenfalls in einer ganz anderen Dimension spielt Martin Schicks „Einführung in den Postkapitalismus“ unter dem Titel „Halfbreadtechnique“ am letzten Abend des Festivals: In seiner Performance teilt der Schweizer Bühne und Aufführungszeit jeweils mit einem anderen Künstler aus einem von der Finanzkrise gezeichneten Land. Diesmal ist es der italienische Tänzer Vito Alfarano, der im vergangenen Jahr einer der Tänzer des „Think Big“-Programms war – so setzen sich die Geschichten fort.

Doch zuvor befasst sich Schick in „Spectacular Spectator“ mit einem oft vernachlässigten Bestandteil jeder Performance: dem Zuschauer. Den ins schier Unendliche zerfaserten Diskurs zu dessen Rolle fasst er dabei in einem „praxisorientierten Workshop“ zusammen, basierend auf einem einfachen Dreischritt des rumänischen Künstlers Dan Perjovschi: „The director – direct / The actor – act / And the public? / The public … pub“

■ Tanztheater International: 29. August bis 6. September
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