Neuköllner Wohnprojekt: Amor rückwärts gelesen

Das ehemalige „Müllhaus“ von Neukölln gilt heute als Vorzeigeprojekt – und bekommt einen Preis. Ein Gang mit dem Herrn der Sanierung durch die Harzerstraße 65.

Amor, dargestellt durch ein ähnliches rotes Herz wie dieses, heißt rückwärts gelesen Roma und soll im ehemaligen Neuköllner "Müllhaus" für einen Perspektivechsel stehen. Bild: DPA

Ein gigantisches Herz aus rotem Plastik versperrt den Weg. Benjamin Marx schlüpft behende an dem Ausstellungsstück vorbei und deutet auf ein paar Buchstaben an der Wand. „Lesen sie das mal rückwärts“, sagt er, „Amor, also die Liebe, von hinten gelesen wird das zu Roma.“ Ein gelungener und längst fälliger Perspektivwechsel, findet Marx. Er muss es wissen. Immerhin ist er, Abteilungsleiter der Kölner Aachener Wohnuns- und Siedlungsbaubaugesellschaft ist, seit über zwei Jahren so etwas wie der inoffizielle Roma-Beauftragter von Neukölln.

Marx, rundlich, kurz und voll reihnländischer Gutmütigkeit, ist in seinem Element. Mit kleinen Trippelschrittchen führt er durch die Harzerstraße 65. Vorbei an dem leuchtenden Herz, durch das neue Atelier, den Kinderspielraum, die aufgräumte Nähwerstatt. Durch das Haus, dass vor zwei Jahren erst als das „Müllhaus von Neukölln“ durch die Medien ging und jetzt als Vorzeigeprojekt gefeiert und am heutigen Freitag prämiert wird. Das Haus sei eine „vorbildliche Lösung eines Wohnungs- und Integrationsproblems in einem sozial und städtebaulich schwierigen Neuköllner Kiez“, lautet die Begründung der Preisstifter Bilfinger SE und des Vereins Architekturpreis Berlin.

Dass die Harzerstraße 65 mal einen Preis gewinnen würde und einen Mediensturm auslösen würde, dessen Ausläufer bis nach Katar, zum arabischen Sender Al-Dschasira wehen, hätte Marx sich vor gut zwei Jahren nicht vorstellen können.

Der 59-jährige sitzt in seinem Büro, das auch als Unterrichtsraum und allgemeines Besprechungszimmer fungiert, raucht und erinnert sich an die Anfänge. Damals, im Mai 2011, hatte er den Auftrag, in Berlin Häuser zu kaufen. Von dem Müllhaus, in dem hunderte Menschen, vor allem Roma-Familien, unter unwürdigen Bedingungen hausten, hatte er aus der Presse erfahren. Bei der ersten Besichtigung sei er trotzdem schockiert gewesen, erzählt Marx. Der ganze Hof sei völlig vermüllt gewesen, die Wohnungen völlig überbelegt.

„Wir waren die einzigen, die das Haus haben wollten“, sagt er mit einer Mischung aus Erstaunem und Triumph. Die Aachener Wohnungs- und Siedlungsbaugesellschaft gehört der katholischen Kirche. Mit sozialen Projekten kennt sich die Firma aus. 1949 wurde sie in Köln gegründet, um für Flüchtlinge und Aussiedler Wohnraum zu schaffen.

Als der Kaufvertrag im August 2011 unterzeichnet wurde, machte Marx sich an die Sanierung. Erst kam der Müll weg, dann führte Marx, die „Mittwochssprechstunde“ ein, um mit den Bewohnern in Kontakt zu kommen. Die laufenden Hausprojekte – etwa die Hilfe beim Verstehen von Amtsbriefen, der Deutschunterricht, die Kinderbetreuung und der Nähkurs für junge Roma-Frauen – seien aus damaligen Notwendigkeiten entstanden und beibehalten worden, erzählt er. Wie teuer die Umbauarbeiten gewesen seien, möchte er nicht sagen. „Über Zahlen spricht die Aachener nicht.“ Immerhin rückt er mit den Mietpreisen raus. „Zwischen 4,50 und 7,80 Euro zahlen die Bewohner pro Quadratmeter hier“, sagt er.

Dass Marx an diesem Tag im Haus ist, hat bereits die Runde bei den Bewohnern gemacht. Diane Stavarcke ist seine erste Besucherin. Marx grüßt fröhlich auf rumänisch: „Salut!“. Die 36-jährige Romni wohnt seit vier Jahren in der Harzerstraße. Sie leitet die tägliche Kinderbetreuung, ihr Mann übernimmt Hausmeisterdienste. „Früher war es hier schlimm“, erzählt Stavaracke, „überall Müll, keine Regeln, keine Schule für die Kinder“. Seit Marx da ist, sei es besser geworden. „Nicht nur die Wohnsituation, auch die Atmosphäre.“

Das sehen nicht alle so. Die Nachbarschaft murrte anfangs, erzählt Marx. „Für die Zigeuner wird Geld ausgegeben“, das sei der Tenor gewesen. Für Benjamin Marx sind solche Reden nur ein weiterer Ansporn. „Wir wollten hier ein Zeichen setzten“, sagt er, „Roma gehören dazu und führen genauso ein normales Leben wie jeder andere hier“.

90 der 137 Wohnungen sind an Roma-Familien vermietet, der Rest verteilt sich auf Mieter mit unterschiedlichsten Hintergründen. Es gehe vor allem darum Familien ein menschenwürdiges Wohnen zu ermöglichen, sagtz Marx. Ob Roma oder nicht.

Freitag ab 14 Uhr Kiezfest „Harzer Ecken“ organisiert vom Bezirksamt Neukölln, Kiehlufer (zwischen Treptower Straße und Kelbraer Straße)
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