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Archiv-Artikel

Alles muss raus

NACHLESE Wenn Rainer Langhans nach Indien fährt, klingt das nach finalem Alterstheater. Doch dank Haremsdame Christa Ritter ist aus dem Trip große Literatur geworden

Selten war Langhans aus seinem Nichts heraus so sympathisch. Mitleidssympathie

VON ALEXANDER WALLASCH

Aha, der Rainer Langhans war also fast zwei Monate in Indien. „Na und?“, könnte man jetzt mit Recht fragen, wen interessiert’s? Zunächst einmal reist er sowieso fast ein halbes Jahrhundert zu spät. Denn die deutschen Protagonisten des bekifften Kreuzzügler-gegen-das-Establishment-Zugs auf dem Hippie Trail sind längst mit ihrem „Scheißvaterland“ versöhnt. Und Delhi, Kalkutta und Bombay sind TUI-Pauschalreiseziele geworden. Da muss sich heute niemand mehr notwendigerweise ohne Geld in der Tasche mit Rucksack und Tramperdaumen über Istanbul, Teheran bis nach Goa durchkämpfen, um am Ende einen Mehrwert daraus zu generieren.

Dieser Indienurlaub ist im Prinzip also keine Erwähnung wert. Nach einem öden Auftritt beim Promi-Dinner-Kaffeekränzchen und einer Quasi-Nichtexistenz im RTL-„Dschungelcamp“ – der Mann lag ja die meiste Zeit wie tot in seiner Hängematte – sind nicht mehr viele Fans übrig, die noch interessiert, was den Alten und seine fünf mitgealterten Haremsladys so umtreibt. Ja doch, wäre das Private wirklich politisch, dann wäre auch diese unendliche Langhans-Kiste Teil einer großen Politikverdrossenheit.

Dass Langhans’ verspäteter Trip nun dennoch für Außenstehende Potenzial hat, liegt an der 70-jährigen Haremsdame Christa Ritter, die ebenfalls mit ins Flugzeug nach Delhi gestiegen ist und vom ersten Tag der Reise an auf ihrem Blog „meraH“ Reisetagebuch führte: Potenzial für poetisch-schöne Ortsbeschreibung und eine verstörende Ausführlichkeit in Sachen Streitereien, Eifersüchteleien und Alterssexdetails. Zusammengenommen entsteht aus Anziehung und Abstoßung diese seltsame Sogwirkung, die „gute Literatur“ hat.

Harem-Hurrikan

Erzählt wird, wie sich Langhans in Indien unvermittelt im Auge eines altersgeilen Harem-Hurrikans wiederfindet und sich erst einmal in tagelangen Durchfall flüchtet. Alles detailliert von Christa aufgeschrieben. Und selten war Langhans aus seinem Nichts heraus so sympathisch. Mitleidssympathie.

Christa, Brigitte und Jutta schwärmen zwar zunächst ausführlich von den Farben und Düften Indiens, stöhnen dann aber mindestens ebenso laut über den ganzen Dreck und das himmelschreiende Elend, das man überall mit ansehen muss. Hinzu kommen all diese körperlichen Gebrechen, die Altersgenossinnen im bundesdeutschen Fernsehsessel pflegen. In Indien ist alles aufregend. Existenziell. Aufwühlend. Die explosive Mischung wird zum Showdown an den Ufern des Ganges: „Eifersucht, Gefühle von Minderwertigkeit. Ein heftiger Ausbruch. Alles muss raus!“

Christa schreibt und schreibt. Selbst dann noch, wenn es hässlich wird. Brigitte unterbricht irgendwann diesen Schreibfluss mit einem eigenen Beitrag im Blog. Dann holt sie rasend vor Eifersucht zur Generalabrechnung mit Rainer aus, indem sie Privatestes öffentlich macht.

Da ist es nämlich dann wieder, dieses ominöse Private, das politisch werden soll und das als Alibi herhalten muss für Mangel an Mitgefühl, Mangel an Anstand und eine umwerfende Respektlosigkeit und Geringschätzung. Der verstaubte Slogan wird zur Legitimation, wird zur Waffe im tropischen Zickengefecht: Brigitte hatte sich wohl bisher als Rainers Favoritin betrachtet und sieht jetzt ihre Felle in Richtung Jutta davonschwimmen, die es tatsächlich gewagt hatte, in einem indischen Hotelzimmer Rainer einen ebenso unverhofften wie unfreiwilligen „Samenverlust“ zu bescheren, bevor sich Rainer wieder Brigitte zuwandte. „Er trat mir zärtlich näher und fragte mich, wie erst mal immer vorab, ob ich etwas mehr will. Wir hatten ‚trockenen‘ Verkehr, erkundend und entspannend – weiches Eindringen und nach meinem Einsatz noch etwas mehr und kräftiger“, erzählt sie angeberisch in Richtung Konkurrentinnen.

„Weiches Eindringen“ bedeutet wohl, dass Rainers Penis schlaff in die Vagina reingestopft wird, während Brigitte also versucht, mittels aufreizender Bewegung doch noch etwas Stimmung ins Tote zu bringen. „Trockener Sex“ muss bei Wikipedia nachgeschlagen werden: „Für trockenen Sex führt die Frau sich ein Pulver aus zerriebenen Kräutern, Wurzeln oder sogar kleinen Steinchen bzw. Aluminiumhydridsteinchen in ihre Vagina ein. Das Vaginalsekret wird durch das Pulver gebunden. Der Scheidenvorhof und die Scheide werden somit künstlich trocken gehalten, wodurch sich für den Penis des Mannes der Lustgewinn erhöht. Insbesondere ältere Frauen wenden deshalb diese Methode an, um weiterhin sexuell attraktiv zu sein.“ Das übersteigt deutlich alles, was man noch zu visualisieren bereit ist. Brigitte prahlt aber weiter: „Rainer bekam schon einen Samenverlust, wenn ich sein Glied nur anschaute.“ Und sie schreit mit Rainer: „Wieso hattest du (bei Jutta) einen Samenverlust?“

Ein grotesker Sound. So grotesk, dass man sich fragt, was diese gealterte Truppe in den letzten dreißig Jahren überhaupt erledigt und in Tausenden Sitzungen abgearbeitet hat.

Wo sind denn die sichtbaren, die ablesbaren, die allgemeingültigen, die vom Privatesten ins Politische gehievten Erfolge dieses in so elend vielen Langhans-Interviews der letzten Jahrzehnte ausgelobten Kommunenprojekts?

Was erscheint davon heute für Suchende attraktiv genug, dass es lohnen würde, sich auf ähnliche Weise über dreißig Jahre lang gegenseitig zu therapieren? Nein, was man hier an zwischenmenschlichem Verhalten, Egoismen und Verletzungen geboten bekommt, das gibt es auf Dorfjugendniveau an jeder Provinzbushaltestelle gratis.

Ein großes Dollhaus 60+. Ein finales Alterstheater am indischen Jungbrunnen. Ein großes Baden in Beziehungsbanalitäten. Drama. Komödie. Hass. Liebe. Langhans und sein Harem hatten auf dem Weg nach Indien ihre verstaubten Orgasmusprobleme ganz oben im Rucksack.

Damit sind sie endlich auf dem Höhepunkt des Banalen angekommen. Rainer hat endlich mal die Kontrolle verloren. Er agiert nicht mehr selbst. Er lässt agieren. Er giert nicht mehr selbst, er lässt gieren. Oder genauer: Rund um ihn herum agiert es gierig. Selten war einem der umständliche Exkommunarde dabei so nah wie in diesem Moment. Ein solches hormonelles Alterstheater hält kein normaler Mann so lange aus.

Rainer schreibt aus Delhi per E-Mail: „Viele Andere gingen zu TM, Osho, Hare Krishna usw. nach Indien. Wie weit sind sie gekommen? Diesmal begleite ich die todkranke Jutta durchs äußere Indien ins innere – hoffentlich. Ich brauchs nicht. Sie aber. Und sie hat die anderen Frauen mitgenommen. Vielleicht hats geholfen. Zu leben. Ich finde, es sieht gut aus …“

Und da findet sich dann endlich der wirklich wichtige Anlass für den späten Zug nach Indien. Die schwer kranke Haremsdame Jutta. Sohn Severin ist dabei mit einem Kamerateam, das den Zyklus des Lebens vor der Kulisse dieses prallbunten Indien in seiner ganzen Anmut, in seinem Schmerz und seiner Hoffnungslosigkeit zeigen könnte.

■ Christa Ritters Blog: merah.de