Krasnaja Poljana und seine Bewohner: Dasein am Rande

Die Alteingesessenen in den Bergen über Sotschi haben von Olympia nicht profitiert. Sie müssen damit leben, was ihnen vorgestzt wird.

Überteuerte Steinwüste: Krasnaja Poljana. Bild: dpa

SOTSCHI taz | Nikolai Abasa schmiedete große Pläne. Der kleine Ort in den Bergen, in dem ein paar Griechen und Esten wohnten, hatte den zaristischen Entwicklungsbeauftragten sehr beeindruckt. „Krasnaja Poljana bauen wir zum ersten russischen Bergkurort aus!“, entschied der Beamte, der der eroberten Schwarzmeerregion ein neues Gesicht geben sollte. Neurussisch würde man ihn heute „dewelopper“ nennen. Um den Herrscher in Petersburg für das Vorhaben zu gewinnen, ließ er den Flecken gar nach der Zarenfamilie Romanowsk benennen.

Doch weder setzte sich der Name durch, noch schritt der Ausbau voran. Es musste erst Wladimir Putin erscheinen, mehr als hundert Jahre später, um die Bergidylle wachzuküssen. Doch auch das stimmt nicht ganz. Der Ort Krasnaja Poljana, der nach der gleichnamigen Hochebene – die rote Wiese auf Deutsch – benannt ist, führt seit dem Olympiatrubel ein Eigenleben.

Fast trotzig, scheint es, hält sich die 5.000-Seelen-Gemeinde am Nordhang des Tales von allem fern. So weit das möglich ist. Vor dem Verkehr auf der Durchgangsstraße gibt es kein Entkommen. An dem Pionierlager „gornij wosduch“ (Bergluft) donnern noch immer Lkws im Sekundentakt vorbei. Hier stinkt es wie im Stau auf der Brennerautobahn nach Ferienbeginn in Bayern in den 70er Jahren.

Ein gern gesehener Gast im Lager für junge Pioniere war einst der Generalsekretär der KPdSU, Leonid Breschnew, als dieser noch beweglich war. Trotz des höllischen Verkehrs trottet eine Kuh am Rande der Trasse entlang. Von nichts lässt sie sich aus der Ruhe bringen. Sollte sie eine Inkarnation des Generalsekretärs sein, der sich auch weigerte, mit der Zeit zu gehen? Früher lachte man über ihn, heute preisen viele ältere Russen die mit ihm verbundene Zeit der Stagnation.

Immerhin ein neues Krankenhaus

„Ist es nicht schrecklich?“, fragt Maria. Sie steht vor dem Dorfladen, der endgültig geschlossen wurde, und schaut hinunter ins Tal, wo einst die „rote Wiese“ war. Maria ist 21 Jahre alt und studiert Forstwissenschaften. Die zierliche Frau möchte „jeger“ werden. Seit zwei Jahren war sie nicht mehr zu Hause und ist schockiert. „Ich habe davon geträumt, oben in den Bergen zu leben und fünf Kinder aufzuziehen“, sagt sie.

Die Zeit der Spiele verbringt sie in ihrem Heimatdorf, um als Zimmermädchen Geld zu verdienen. Die großen Hotels zahlen doppelt so viel wie andernorts. Der Wandel bringe auch Vorteile, räumt sie ein. Von der neuen Klinik in KP ist sie begeistert. „Zwei Stunden, und ich hatte die Diagnose, die mir in zwei Jahren in Rostow am Don niemand stellen konnte. Und dann auch noch umsonst!“ Das Krankenhaus ist neu und die Technik auf dem neusten Stand. Die Klinik ist für die Versorgung der Gäste der alpinen Wettbewerbe zuständig.

Marias Familie gehört zu den Alteingesessenen. Für den Bau des Krankenhauses kassierte der Staat einen Teil des Familiengrundstücks und weigerte sich, den Marktwert zu zahlen. Seit Jahren läuft nun schon der Prozess. Der ältere Bruder ist Ingenieur und baute den ersten Skilift in KP der 90er Jahre. Eine Anstellung bei einer der Olympiafirmen fand er nicht.

Die Einheimischen wurden übergangen

Viele Poljaner waren von Anfang an skeptisch. Auch wer mitmachen wollte, hatte es schwer. Einheimische wurden übergangen. Jetzt fürchten auch die Kleinunternehmer, dass sie den großen Ladenketten in den neuen Anlagen weichen müssen, meint Natascha, die in einem Geschäft für Sportartikel in KP arbeitet.

Das Dorf führt ein Dasein am Rande. Es hätte allen Grund dazu, sich benachteiligt zu fühlen. Vom olympischen Geldsegen blieb nicht viel hängen. Die zentralen Straßen wurden zu guter Letzt aber noch asphaltiert, meint der Bergführer Sergej: „Damit sich die Besucher nicht die Schuhe schmutzig machen.“

Der 48-Jährige hatte früher eine Pferdezucht und führte Touristen durch die Bergwelt. Die jahrelangen Bauarbeiten verdarben das Geschäft. Bergwanderer würden in diese überteuerte Steinwüste nicht mehr zurückkommen, glaubt er. Auch Sergej lebt nur noch von Gelegenheitsjobs. „Wir Einheimischen werden nicht gehört“, sagt er, der das Terrain seit Kindesbeinen wie die eigene Westentasche kennt.

Beim Bau der Sprungschanze hatte er gewarnt, sie nicht an der geplanten Stelle zu errichten. Der Boden sei zu locker und gebe stellenweise schon dem Schritt eines Wanderers nach. Niemand hörte zu – und die Schanze sackte. Der Neubau verschlang Millionen, aber vielleicht war das auch so geplant … Die Geschichten wiederholen sich.

Auch die Dorfbibliothek, die Ludmila seit Jahrzehnten leitet, wurde noch renoviert. Das Gebäude an der Hauptstraße erhielt eine behindertengerechte Auffahrt nebst Plastikfassade. Neue Bücherregale und vier Computer sollen noch geliefert werden. Ludmila gibt sich so zufrieden, wie es eine Angestellte im öffentlichen Dienst in Russland wohl tun muss. Damit enden fast die kollateralen Wohltaten der Spiele.

Der Rest wird versteckt

Ach nein! Das Dorf erhielt noch einen Einheitszaun mit Sichtschlitzen aus braunen Kunststoffbalken. Was die Veranstalter für unansehnlich oder peinlich, weil ärmlich, halten, verschwindet hinter Sichtblenden.

Wie das Haus des alten Griechen Jannis in der Turtschinski-Straße. Nicht nur das Haus verschwand hinter dem Zaun, auch Jannis ist wie vom Erdboden verschluckt. In seinem Holzhaus wohnen zwei Männer aus Zentralrussland, die in einem Supermarkt arbeiten. Jannis? Nie gehört.

Im Sommer 2011 saß er auf der Bank vor der Kate und erzählte von den Deportationen der Griechen unter Stalin. Wie ein Wunder hatten er und die Eltern alles überlebt. Die erste Welle in den 30ern, dann 1942 und zuletzt nach dem Krieg. Niemand hat bis heute begriffen, warum Stalin 1949 über die pontischen Griechen nochmals herfiel. War es Angst vor einem Krieg am Schwarzen Meer oder vor griechischen Familienbanden? Dem Kosmopolitismus womöglich?

Was Stalin nicht schaffte, fürchtete Jannis, könnte Olympia gelingen: Am Ende seines Lebens ihn doch noch zu vertreiben. Im Namen der Idee.

Der Exodus der alten Bewohner scheint fortzuschreiten. Viele Griechen haben KP verlassen. Hier und dort hört man noch ein paar Sprachfetzen, es gibt auch ein Greek Hotel und einen Imbiss in der Ortsmitte mit Suvlakia und den unverwechselbaren musikalischen Bausätzen aus Hellas – agapi mou – s’agapo. Die freundliche Bedienung versteht sie aber nicht, sie ist Armenierin.

Griechen waren es, die das Land wieder urbar machten, nachdem die Russen die tscherkessischen Ureinwohner in Kbaade 1864, dem späteren KP, umgebracht oder vertrieben hatten. Anderthalb Jahrzehnte vergingen, bis Griechen den Ort wiederentdeckten und sich niederließen. Der Verwaltung in KP wurde unterdessen nahegelegt, im Vorfeld der Spiele die Gründungsgeschichte besser ruhen zu lassen …

Nikolai Abasa hätte auch heute noch viel zu tun. Zunächst müsste er sich an Gazprom wenden. Krasnaja Poljana hat inzwischen zwar eine Gasleitung, die Haushalte aber haben kein Gas.

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