„Halt! Plastiktüte!“

Der Kältebus der Stadtmission sucht in Winternächten die Stadt nach Obdachlosen ab. Fahrer Christoph Rottmann ist in der zweiten Saison dabei. Viele seiner Kunden kennt er schon mit Namen

von GIUSEPPE PITRONACI

Die Stadt ist kalt und starr. Ein Renault-Bus fährt durch die Nacht. Christoph Rottmann sitzt am Steuer. Der 27-Jährige würde nie sagen, er sei Taxifahrer. Doch auch er sucht Kunden und nimmt Anrufe entgegen. Viele wollen mit, rufen aber nie selbst an. Das tun die, die nicht wollen, dass Rottmanns Kunden draußen frieren. Rottmann bringt sie rein. Erst in den Bus, den Kältebus. Dann zu Notübernachtungen. Seit rund elf Jahren gibt es ein Berliner Netz mit mindestens 15 solcher Orte. Grund: Es kam vor, dass Leute draußen erfroren. Für Obdachlose gab es wenig Unterkünfte, und diese waren kaum bekannt. Das zumindest ist jetzt besser.

Rottmann bekommt sein Geld von der Stadtmission. Von Oktober bis März, wenn er den Kältebus fährt. Den Job bot man ihm an, als er, wie andere Studenten, ein paar Monate in einer Notübernachtung jobbte. Er selbst brach sein Theologiestudium ab, jetzt versucht er es im Fernstudium. Der Sohn einer Ärztin und eines Pfarrers hat blondes Wuschelhaar und einen sauberen blauen Anorak: Rottmann weckt Vertrauen. Jung, aufgeschlossen und fest im Sattel.

Er hat immer einen Helfer. Heute ist es Tobias. Der Student fährt einmal die Woche mit. Zu zweit halten sie Ausschau nach ihren Kunden. Und nach Signalen, zum Beispiel Plastiktüten. Einmal sagt Tobias zu einem Tütenträger: „Wir sind von der Stadtmission. Brauchen Sie einen Schlafplatz?“ Der Mann antwortet: „Ich gehe nur spazieren.“ Es ist Tobias ein bisschen peinlich. Aber als sie ihn sahen, hatte er seinen Arm im Abfalleimer. Noch so ein Signal.

Der Bus kommt zum Bahnhof Zoo. Null Uhr, drei Grad. Auf dem Boden an der Straße: ein bauschiges Lager aus ranzigen Decken und Kissen. Darin schnarcht es. Rottmann sagt: „Anja, möchtest du warmen Tee?“ Eine piepsende Stimme nuschelt aus dem Deckenklumpen. Rottmann hat verstanden, kein Tee. Anja kommt nie mit. Die Notübernachtungen kommen mit Anja nicht klar, Anja kommt mit den Notübernachtungen nicht klar. „Anja ist sehr schwierig“, sagt Rottmann. Sie trägt Glitzerpailletten im Haar und kackt vor Häusern auf die Straße. „Psychisch angeknackst“, sagt Rottmann.

Dann sucht er Dieter und drückt ihm Schuhe in die Hand. „Größe 46 ist nicht leicht zu bekommen“, sagt Rottmann. Die Winterschuhe sind aus einem Spendenlager, extra für Leute wie Dieter. Der packt sie in die Reisetasche. Auch er kommt nicht mit, will nie. Aber der kleine Mann neben ihm, der zu große Kleidung trägt und viel lächelt. „Wir haben uns mal gesehen, wie heißen Sie noch?“, fragt Rottmann. Er heißt Georg (Name geändert) und möchte geduzt werden. Georg ist aus Bamberg, 65 Jahre alt. Sein Tonfall: fränkisch und immer freundlich. Wie ein Lieblingsonkel, der seinen Neffen „Dornröschen“ vorliest.

Sie gehen durch den Bahnhof. „Totentanz hier“, sagt Georg. „Halb eins und kein Mensch. Mehr Personal als andere Leute.“ Er blickt auf zwei Wachleute. „Und das nennt sich Metropole.“ Dann steigen sie in den Bus. „Warst du nicht mal im Wohnprojekt? Warum bist du raus?“, fragt Rottmann. „Es lief nicht so, wie es sollte“, sagt Georg. Rottmann fragt, ob er’s nicht noch mal versuchen möchte. Georg sagt, dass das Amt nicht will. Aber vielleicht will auch er nicht. Im Radio läuft „All night long“.

Ankunft Notübernachtung. Eine junge Frau öffnet. Georg holt eine Flasche aus der Jacke, „Klarer“ steht auf dem Etikett. „Darf ich Ihnen das geben?“, fragt er. Georg kennt die Regeln. Im so genannten Aufenthaltsraum gibt es keine Betten, keine Isomatten. Nur lange Klappbänke, Tische und einen Fußboden. Überall schnarcht es. Dafür sind hier auch Läuse erlaubt. Der Ort ist bekannt bei den Obdachlosen.

Einer von ihnen kommt zu Rottmann, groß, hebt die Augenbrauen. „Hier ist alles voll. Was bringst du hier noch Leute hin?“ Rottmann sieht in die Liste: Schon 124 Gäste. „Wie soll das erst im Winter werden?“, fragt er. Aber es ist der einzige Ort, wo jeder aufgenommen wird. Egal wie spät, egal wie voll. Wenn es so weitergeht, müssen mehr Räume her, sagt Rottmann. Die meisten Gäste kommen ohne sein „Taxi“. Den Mann mit den drohenden Augenbrauen kennt er schon lange. „Macht einen zur Schnecke“, sagt er. Anders als Georg. Der sei ein „feiner Kerl“.

Es ist jetzt das zweite Jahr, dass er den Kältebus fährt. Was ab April sein wird, weiß er nicht. Aber das ist okay. „Es wird sich schon was ergeben“, sagt Rottmann. Notfalls will er sich selbstständig machen. „Im Export-Import“, sagt er und lacht. Aber der Job macht ihm Spaß. Man habe mit Menschen zu tun. Und die Begegnungen auf der Straße können sehr innig sein.

Unterwegs erzählt Rottmann, dass er vor den Touren oft ein warmes Bad nimmt, was er sonst nie tut. Und dass er zu Hause eine Lampe hat mit sehr hellem Licht. „Ein Licht, das die Sonne imitiert“, sagt er. Denn vom Tageslicht bekommt er nicht viel mit. „Möge die Nacht mit euch sein“, sagt die Moderatorin im Radio. Dann läuft Hardrock.

Rottmann und Tobias gehen durch U- und S-Bahnhöfe, leuchten mit einer Taschenlampe unter Treppen. Zwischendurch fahren sie weiter, rufen manchmal so was wie „Halt! Plastiktüte!“ und bleiben wieder stehen. Hin und wieder kommt ein Anruf, weil jemand einen Obdachlosen gesehen hat. Dann fahren sie dorthin und suchen wieder. Frustrierend sei es nicht, wenn sie dann niemanden finden, sagt Rottmann. „Aber dröge.“ Doch in der letzten Saison war jede Nacht mindestens einer dabei, wegen dem Rottmann sagte: „Zum Glück war ich unterwegs.“

Um drei Uhr macht Christoph Rottmann heute Feierabend. Bis vormittags zehn oder elf wird er schlafen. Dann muss er erst mal seinen Kohleofen anheizen.

Kältebus-Nummer: (01 78) 5 23 58 38