Das Damals als Aufgabe für heute

So schlägt man Funken aus Gebäuden: Am Sonntag stellte der Bauhistoriker Wolfgang Pehnt sein Buch „Deutsche Architektur seit 1900“ in der Akademie der Künste vor. Architektur ist für ihn sowohl Baukunst wie Darstellung von Machtverhältnissen

VON RONALD BERG

Der Anlass für die sonntägliche Matinee in der Akademie der Künste war gewichtig: Über zwei Kilo schwer und knapp 600 Seiten dick ist Wolfgang Pehnts Buch „Deutsche Architektur seit 1900“. Die Kritik hatte das kürzlich erschienene Werk bereits als Opus magnum gefeiert und in den höchsten Tönen gelobt. Tatsächlich ist dem Professor für Baugeschichte an der Ruhr-Universität Bochum ein Kunststück gelungen: Ein Jahrhundert Architektur und Städtebau in Deutschland werden so leicht und spannend erzählt wie ein Kriminalroman.

Pehnt, ehedem Verlagslektor und Rundfunkredakteur, versteht es, aus Gebautem Funken für Geschichten zu schlagen: Vom Geschmacksdiktat des Kaisers bis zu den Umbauten der wilhelminischen Architektur von damals als Aufgabe der unmittelbaren Gegenwart. Die letzten Beispiele aus Pehnts großzügig bebildertem Buch stammen aus dem Jahr 2005. Aber Pehnt bringt nicht nur die architektonischen Highlights. In Kapiteln wie Germanische Tektonik, Happy Fifties, Mangel an Obdach oder Reise nach Moskau deutet Pehnt Architektur als Ausdruck der jeweiligen Diskurse und gesellschaftlichen Verhältnisse.

„Wie beginnen?“, war Pehnts Frage beim Abfassen des Buches gewesen. Zum Vortrag im Plenarsaal der Akademie am Pariser Platz entschied sich Pehnt deshalb dafür – wie am Anfang des Buchs –, die Lage um 1900 zu schildern: Trotz drückender Wohnungsnot beschäftigte sich die Architektenschaft im Jahr 1900 in einer Preisaufgabe mit dem „Entwurf zu einem prinzlichen Palais in Berlin“. Die Jahrhundertwende markierte also keine architektonische Zäsur. Die kam erst als Folge des Ersten Weltkriegs mit der Abschaffung der Monarchie. Hatte etwa im Villenbau vordem ein ausgeklügeltes System dafür gesorgt, dass sich die Wege von Herrschaften und Personal nicht überschnitten, konnten sich nach dem Krieg auch die höheren Stände Personal kaum noch leisten, was die Organisation des Hauses entscheidend veränderte: Hausfrau und Hausherr mussten nun die Wege des Personals selbst machen.

Nach Pehnts kurzweiligem Vortrag war eigentlich vorgesehen, dass drei prominente Berliner Architekten, alle inzwischen selbst in Professorenämtern, ihren Lieblingsarchitekten des letzten Jahrhundert vorstellten. Hilde Léon berichtete stattdessen lieber von der eigenen Studienzeit Anfang der Siebziger in Berlin, wo ihr akademische Architekturfeindlichkeit begegnete, sodass sie über die Wichtigkeit grundsätzlicher Fragen wie etwa die nach der Bedeutung des historischen Stadtgrundrisses erst durch Aldo Rossi in Venedig aufgeklärt wurde. Auch Matthias Sauerbruch berichtete von prägenden Studientagen an der Architectual Association in London, wohin er aus Berlin geflohen war, ungefähr aus den gleichen Gründen wie Léon, nur etwas später. Axel Schultes schließlich zitierte aus wiederentdeckten Briefen von Pehnt an die amerikanischen Architektenikone Louis Kahn. Der Briefwechsel war zwar frei erfunden, erlaubte es Schultes aber, den „lieben Wolfgang“ ordentlich zu loben und seine eigene Philosophie von Architektur als „Schweigen der Wände im Spiel des Lichts“ zu verbreiten.

Pehnt setzte dann selbst den Schlusspunkt, indem er die letzten Absätze aus seinem Buch vortrug. Das abgelaufene Jahrhundert werde eben auch durch seine „versäumten Anschlüsse“ definiert: ressourcensparendes Wohnen, die Bodenfrage, die fehlende Aufregung über Spekulationsgewinne.

Dem freundlich dreinblickenden Pehnt konnte man am Ende nicht anmerken, ob er mit der Veranstaltung zufrieden war. Der Beifall des Publikums war jedenfalls heftig. Aber zumindest zwei der aufgebotenen Architekten hatten eine Breitseite auf Pehnts Generation abfeuert, die sich in Folge der 68er-Bewegung eher für Soziologie und Kybernetik interessierte als für Baukunst und Tradition. Für einen wirklichen Dissens mit Pehnt allerdings reichte die Kritik nicht. Unterschwellig aber – und das machte die Matinee so interessant – offenbarte sich doch eine etwas andere Sicht auf das, was Architektur bedeuten kann. Kann man es den Architekten verdenken, dass sie am liebsten in Stilen und Formen denken? Pehnt jedenfalls zeigte schon mit den kurzen Ausschnitten aus seinem Buch, dass Architektur und Städtebau nicht nur Baukunst bedeuten, sondern ebenso auch Repräsentation von Machtverhältnissen.

Wolfgang Pehnt: „Deutsche Architektur seit 1900“. DVA, München, 2005, 592 Seiten, ca. 850 Abb., 49,90 €