Kolumne Nüchtern: Bevor die Leber aufmuckt
Wer bei Alkoholismus nur an Filmrisse und Abstürze denkt, irrt. Die meisten Menschen mit Alkoholproblem führen ein völlig normales Leben.
Nach fast zwei Jahren geht diese Kolumne langsam ihrem Ende entgegen. Dies ist die vorletzte Ausgabe. Beim Schreiben hat es mich immer wieder überrascht, wie schwierig es für die meisten Menschen ist, den eigenen Trinkgewohnheiten ehrlich ins Auge zu blicken. Egal wie bedenklich oder unbedenklich diese sind. Und das ist weit mehr als ein rein individuelles Problem.
Um das zu beobachten, muss man noch nicht einmal auf die Wiesn gehen. Obwohl statistisch eindeutig widerlegt (27 Prozent aller Deutschen stehen laut Bundesgesundheitszentrale an der Schwelle zum Alkoholismus), glauben die meisten von uns immer noch, dass es sich bei Abhängigkeit um eine Randerscheinung handelt – und nicht um ein Phänomen der Mehrheitsgesellschaft.
Neulich war ich in einer Morgenshow im MDR-Fernsehen zu Gast, um über Abhängigkeit zu sprechen und mein neues Buch vorzustellen, das wie diese Kolumne den Titel „Nüchtern“ trägt. Darin erzähle ich zum einen, wie ich getrunken und schließlich damit aufgehört habe, und zum anderen, wie wir als Kultur mit diesem Thema umgehen. Es war ein wohlwollendes und sympathisches Gespräch. Aber es führte – wie immer, wenn ich über dieses Buch spreche – nichts an dem in deutschen Talkshows und Magazinen seit Jahrzehnten eingeübten Suchtmythos vorbei.
Seit Jahren wird uns auf allen Kanälen erzählt, dass nur Menschen alkoholkrank sind, die morgens zitternd zum Supermarkt laufen oder mittags im Büro den Flachmann rausholen. Menschen, die wie die Schauspielerin Jenny Elvers ihre Proseccoflaschen überall im Haus verstecken oder wie der Fußballer Uli Borowka „einen Kasten Bier, eine Flasche Wodka, eine Flasche Whiskey und zum Abschluss noch Magenbitter“ trinken, wie er einmal der Zeit verriet.
Medial ausgeschlachtete Zirkusnummern
Ich persönlich finde Elvers und Borowka toll. Die Wahrheit aber ist, dass Abhängigkeit in der Regel sehr viel gewöhnlicher aussieht. Bei solchen Alkoholmengen handelt es sich um Extremfälle, um desolate, medial ausgeschlachtete Zirkusnummern.
Man weiß heute, dass Abhängigkeit schon lange existiert, bevor sie sich in den Leberwerten niederschlägt. Man weiß, dass es bei allen Menschen, die viel trinken, zu psychischen Veränderungen kommt und zu einem strukturellen Wandel im Gehirn. Man weiß, dass schon vergleichsweise wenig Alkohol, regelmäßig getrunken, zu einem deutlich erhöhten Krebs- und Krankheitsrisiko führt. Man weiß, dass gewohnheitsmäßiger Alkoholkonsums hochtraurige Auswirkungen auf Familie und Partner hat.
All das wissen wir und wollen es nicht wissen. Immer wenn ich, wie beim MDR, davon erzähle, wirken Leute erstaunt. Jeder Trinker trinkt asymptomatisch. Man hat gute Phasen, in denen man wenig trinkt und Pausen macht, und schlechte, in denen sich Abstürze häufen. Ich habe peinliche Sachen erlebt, ich hatte auch einige Filmrisse, aber für gewöhnlich ist es abends bei einer Flasche Wein geblieben. Eine Fasche, die irgendwann zu viel war. Die meisten Menschen, die ein Alkoholproblem haben, trinken so. Sie führen völlig normale, unauffällige Leben.
Magisches Denken
Wenn wir uns kollektiv nur die Extrembeispiele einer weit verbreiteten Krankheit vor Augen führen, dann heißt das letztlich, dass wir einer Form des magischen Denkens anhängen. Wir wollen alle glauben, dass wir von dieser Krankheit nicht betroffen sein können. Neben einem so surrealen Konsum wirkt unser Trinken immer völlig vernünftig.
Je mehr wir an dem Irrglauben festhalten, dass die Alkoholkranken nur die im Endstadium der Krankheit sind, desto mehr können wir selbst trinken. Diese Art des magischen Denkens ist ein Denken, dass unzählige Menschen, die Hilfe brauchen, dazu bringt, sich keine Hilfe suchen. Es ist ein Denken, das tötet.
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