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Kolumne BlickeNahes Ausland

Ambros Waibel
Kolumne
von Ambros Waibel

Ob vom Kreml, aus München oder Bonn – wer als „nahes Ausland“ bezeichnet wird, hat einiges zu erleiden. Doch der Begriff hat eine begrenzte Haltbarkeit.

Rekonstruierter Blick ins „nahe Ausland“ DDR im Grenzmuseum Schifflersgrund Asbach-Sickenberg, Hessen. Bild: dpa

A m Wochenende las ich im Leitartikel der NZZ, dass 20 Millionen Russen außerhalb der russischen Staatsgrenzen in ehemaligen Sowjetrepubliken leben. „Der Kreml“ nenne diese souveränen Staaten sein „nahes Ausland“.

Das hat mich daran erinnert, wie wir früher von München zum Skifahren nach Tirol gefahren sind: Wie unser Vater manchmal daran dachte, uns aus seiner Vaterschublade im Flur ein paar Schillinge zuzustecken; und wie man, wenn man den Pass vergaß, einen Tagesausweis für Österreich lösen musste. Wir nannten das Schikane und zahlten, glaube ich, 140 Schilling bzw. 20 DM.

Dass wir uns im nahen Ausland gut benommen hätten, kann man nicht sagen.

Das lag daran, dass wir einerseits ja im Ausland waren, uns also schlechter benehmen konnten als daheim; andererseits daran, dass dieses Ausland uns auch sprachlich so nah war, dass wir uns gar nicht wie im Ausland fühlten.

Tirol war Bayern nur mit lustigen Zigarettenmarken (Johnny!) und ein paar Krächzlauten im Dialekt. Und wenn man die Schillinge vergessen hatte, nahmen die Einheimischen auch Mark, wäre ja noch schöner gewesen – sie wollten uns schließlich was verkaufen. Ich erinnere mich wie O. einem schon älteren Kellner auf die Frage, ob er noch ein Bier wolle, antwortete: „Für mi is des koa Bier, für mi is des a Krankheit.“ Wir waren halt mindestens Halbe gewohnt und nicht diese ewig leeren Minigläschen, die in Tirol zum Ausschank kamen.

Kommunismus gucken

Was ich damit sagen will, ist erst mal genau das, im Sinne der Heiner-Müller-Anekdote über die Tänzerin Anna Pawlowa: „Also die wurde gefragt, was sie mit einem bestimmten Tanz sagen wollte, und da sagte sie, wenn sie das anders hätte sagen können als durch diesen Tanz, hätte sie sich nicht dieser Strapaze unterzogen.“

In der 11. Klasse wurden wir zum Kommunismus-Gucken in die DDR geschickt, nach Thüringen. Obwohl wir uns dort der BRD-Staatsdoktrin nach gar nicht im Ausland befanden, war das für uns Münchner Jeunesse dorée extrem exotisch.

Die letzten Kilometer bis zur Systemgrenze fuhren wir in einen Militärkonvoi eingeklemmt. Eine Gastschülerin aus Australien, in die alle Jungs verliebt waren, fragte, ob hier Krieg sei, oder was?! Ja, honey, sagten wir: Hier ist der Kalte Krieg! Hier wird auch deine Freiheit verteidigt!

An mehr erinnere ich mich leider nicht mehr, weil ich mich kurz nach Überquerung des Todesstreifens in A. verliebte – und sie sich in mich. Insofern sind meine Gedanken an mein erstes Mal DDR sehr schön.

Geschichtlich gesehen ging das dann aber irgendwann nicht mehr auf: Dass die Deutschen in der DDR von uns aus gesehen zu uns gehörten, von ihnen oder von der SED oder eben vom „Kreml“ aus aber zu sich selbst oder eben zum Ostblock.

Die Geschichte schafft Lösungen für unklare Verhältnisse. Sie lässt sich dabei auch mal Zeit, aber letztlich ist es doch wie mit den Tiefdruckgebieten, in die der Wind hineinpresst. In Tirol gibt es inzwischen die gleichen Scheine wie in München: Und die Kellner kommen aus Ostdeutschland und sind die letzten, die noch Johnny rauchen.

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Ambros Waibel
taz2-Redakteur
Geboren 1968 in München, seit 2008 Redakteur der taz. Er arbeitet im Ressort taz2: Gesellschaft&Medien und schreibt insbesondere über Italien, Bayern, Antike, Organisierte Kriminalität und Schöne Literatur.
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