: Als ich weg war
KOMA Eine Notoperation – die Ärzte versetzen die Patientin ins künstliche Koma. Als sie aufwacht, ist nichts mehr an seinem Platz
■ Das künstliche Koma: Es ist kein richtiges Koma. Es ist eine Art Langzeitnarkose, ein künstlicher, durch Medikamente erzeugter Schlaf. Ärzte benutzen ihn, um bei schwer erkrankten Patienten den Organismus zu schonen. Patienten werden dabei künstlich beatmet und ständig überwacht. Im Gegensatz zum „echten“ Koma kann ein künstliches jederzeit beendet werden.
■ Das Aufwachen: Im Aufwachprozess werden Schlaf-, Schmerz- und Beruhigungsmittel schrittweise reduziert. In den ersten Tagen können Patienten durchaus halluzinieren – der Körper ist regelrecht auf Entzug. Die Verwirrungen enden in der Regel nach einigen Tagen. Je länger der künstliche Schlaf dauert, desto mehr bauen sich indes Muskeln ab – die hernach mühsam und langwierig wieder aufgebaut werden müssen.
■ Wahrnehmung: Menschen im künstlichen Koma können unterschiedlich viel wahrnehmen. Manche erinnern sich an nichts, andere halten nahezu Kontakt mit ihrem Umfeld und prägen sich Einzelheiten ein.
VON KRISTINA PEZZEI
Dies ist keine ganze Geschichte. Sie hat einen Anfang, aber sie hat kein Ende. Sie spielt immer noch, immerzu. Im Grunde genommen hat sie sogar zwei Anfänge. Einen für meine Eltern. Und einen für mich.
Mein Anfang ist am 4. September. „Heute ist der 4. September 2009“, sagt der Arzt mit der freundlichen Stimme zu mir. „Wissen Sie, wo Sie sind? Sie sind in Dresden.“ Ich nicke. Okay, denke ich, Dresden. Kein warum. Erst mal nicht. Der Arzt erzählt noch etwas von drei Landtagswahlen, die ich verpasst habe. Ich döse ein, zufrieden. Ich weiß nun, wo ich bin und zu welcher Zeit. Ich kann nicht allzu viel verpasst haben. Meine Haare sind nicht grau.
Ich wache wieder auf. Meine Mutter sitzt am Bett, rechts von mir. Links davon mein Vater. Ich will fragen, aber ich habe keine Stimme. Was ist passiert, formuliere ich mit meinen Lippen. Welcher Tag ist heute? Wo ist mein Freund? Was ist mit meiner Arbeit? Die Eltern verstehen mich nicht. Ich gebe resigniert auf.
Ich kann mich nicht bewegen. Ich schwitze, es juckt, aber die Hand kommt nicht mehr bis zum Gesicht. Auch das Drehen im Bett funktioniert nicht. Von links nach rechts, von rechts nach links, ich habe keine Kraft. Ab und zu kommt eine Schwester oder ein Pfleger, um mich zu drehen. Und immer juckt es dann oder zwackt. Und ich kann dem Drang, mich zu kratzen, nicht nachgeben. Was jetzt? Ich versuche, mich aufs Weiteratmen zu konzentrieren.
Vergessen
Von dem Befund der Ärzte habe ich keine Ahnung. Ich weiß nicht, dass es einen Darmverschluss gab und nach einer Notoperation zu Komplikationen kam. Ich weiß nicht, dass Mageninhalt in die Lunge gekommen war, der Körper rebelliert hat, ich zwei Wochen lang ins Koma versetzt werden musste und dabei einen leichten Schlaganfall erlitten habe. Ich weiß nicht, dass der Körper tagelang 41 Grad Fieber verkraften musste. Dass die Ärzte einen Luftröhrenschnitt und eine Operation am Kopf erwogen hatten. Es macht nichts, dass mir das keiner sagt. Ich würde es sowieso nicht in seinem ganzen Ausmaß begreifen. Meine Konzentration reicht gerade zum Atmen.
Immerhin sind die Schläuche im Mund, in der Nase weg. Dicke, blaue Schläuche zum Beatmen. Zum-mich-Beatmen. Damit ich sie nicht herausreißen konnte, waren die Hände nachts ans Bett gebunden. Keine Chance, sich einen Zentimeter zu bewegen. Alles fest, alles steif, und immerzu war es heiß. Wie gern hätte ich die Schaffelle, die Wollhaardecken unter und neben mir weggezogen, die Fenster aufgerissen, mir Luft verschafft. Es ging nicht. Konzentriere dich aufs Weiteratmen, sagte ich mir – und es funktionierte. Die Panik ließ nach.
Überhaupt war ich bis zu jenem 4. September, als mich der freundliche Arzt aufklärte, der Überzeugung, in Norwegen gelandet zu sein. Die Abfolge zwischen Licht und Dunkel verstand ich nicht, irgendwie war es immerzu hell. Und war ich nicht in einem norwegischen Schwesternheim gelandet und wartete auf den Transport in ein Krankenhaus, in dem mein Freund bereits lag? Aber irgendwie sprachen alle deutsch. Es passte nicht, aber es störte mich auch nicht sonderlich.
Später will ich es doch verstehen. So viele Fragen. Ungestellte. Dann endlich begreifen meine Eltern, was ich will. Endlich beginnen sie zu erzählen. Sie erzählen ihren Anfang der Geschichte. Wie sie ins Krankenhaus kamen, eilig aus Bayern angereist, in der Annahme, mich am folgenden Tag nach Hause mitnehmen zu können. Wie ich nach der Operation aufwachte, es mir kurz gut ging. Dann die Atemprobleme. Aspiration. Fieber. Koma. Nach einer Woche mit dem Helikopter ins nächste Uniklinikum.
Halt.
Daran erinnere ich mich. Ich bin mit dem Hubschrauber geflogen, zu einer Eisstation. Dort hat ein Arzt auf mich gewartet, der mir bekannt vorkam. „Sehen Sie, ich wusste doch, dass ich Sie wiedersehe“, hat er gesagt. Dann musste ich auftauen, bevor ich verlegt werden konnte. Und mein Freund war immer dabei. Soll noch einer behaupten, im Koma bekäme man nichts mit. Doch der Rest: dunkel. Ich erinnere mich nicht.
Irritation
Nichts mehr geht von allein. Eine Schwester kommt morgens zum Waschen, Haarekämmen. Sie putzt mir die Zähne. Abends das gleiche Ritual und ein frisches Handtuch. Alles im Bett, liegend. Sitzen kann ich nicht. Es hält sich ja noch nicht einmal der Kopf von allein auf dem Hals. Die Muskeln sind weg. Ich bin froh, wenn eine Schwester kommt. Ein Pfleger, das ist noch unangenehmer. Ein Rest Würde soll, darf, muss bleiben. Die Waschprozedur dauert, und so vergehen die Tage.
Einmal sitzt der Kopf dann doch wieder auf dem Hals. Und erste Essversuche dazu. Mein Vater füttert mich. Ich habe Hunger, aber ich muss aufpassen, dass ich mich nicht verschlucke. Morgens hilft mir eine Schwester beim Brötchenschmieren. Ich will es selbst machen. Aber es dauert so lange. Meine Hände zittern, und ich bin so schwach, dass ich die Aluminiumfolie nicht von der Margarinepackung ziehen kann. Den Joghurtdeckel steche ich mit dem Löffel ein. Das Frühstück dauert eineinhalb Stunden. Essen strengt an. Ich kaue, und mir fehlt die Luft zum Atmen. Der Puls schlägt hoch, nach einem Brötchen bin ich völlig durchgeschwitzt. Ich muss schlafen.
Ich schlafe so viel, dass ich nachts nicht mehr müde bin. Die Schwestern und Pfleger drapieren mich in die unmöglichsten Positionen, links halb auf dem Bauch und einen Arm nach hinten, rechts mit dem linken Bein vor dem rechten, Decken in den Rücken gestopft, und es ist immer noch so heiß. Ich soll mich nicht wundliegen. Meist werde ich einmal in der Nacht umgewälzt. Aber wie soll ich schlafen, wenn ich doch den ganzen Tag liege? Und die Fragen lauter werden im Kopf: Was ist passiert? Warum bin ich hier? Und wie geht es weiter? Wann werde ich wieder arbeiten können? Wann schreiben?
Meine Kollegen und Kolleginnen aus der Redaktion schicken mir ein Tagebuch. Jeder hat sich einen Tag genommen, an dem ich weg war, und hat aufgeschrieben, was er – oder sie – da erlebt hat. Ich freue mich: ein Stück Nichtvergessensein. Und ein Stück Ernüchterung, Alltag, Belanglosigkeit. „Bis zum Abend ist es einer von den Samstagen, die einem wie Sand durch die Finger rieseln. Aufwachen, Milchkaffee im Bett, bisschen rumtrödeln, bisschen joggen, bisschen Staub saugen“, schreibt eine. Eine andere: „Am Mittwoch, Menschenskind, was war nur am Mittwoch? Ich komme da einfach nicht drauf.“ Habe ich wirklich so viel verpasst?
Noch bin ich der Meinung, dass ich spätestens zur Bundestagswahl am 27. September wieder arbeiten werde. Das ist erst in gut zwei Wochen! Überhaupt reicht es mir mit der Krankenhauskost, den weißen Nachthemdkitteln, die hinten notdürftig zusammengeknotet werden, und den Bettpfannen. Ich will wieder selbstbestimmt leben. Überhaupt hätte ich beschlossen, am kommenden Wochenende nach Berlin zu fahren, sage ich einer Schwester. Ich bräuchte mal eine Auszeit. Die Schwester nickt und sagt, das verstehe sie. Dass die Hand immer noch nicht bis zur Nase kommt und die Beine wie Wassersäcke an mir hängen, erwähnt sie nicht.
Ich will aufstehen, sage ich meinen Eltern. Ich will nach unten gehen und ein Eis essen. Du kannst nicht aufstehen, an dir hängen doch lauter Kabel, sagt mein Vater. Das ist mir egal, sage ich. Meine Mutter holt mir das Eis. Ich luge zu meiner rechten Schulter. Tatsächlich, in meinem Hals verschwinden Kabel. In meinem Oberschenkel auch, ein Kabel endet im Bauch. Hinter mir ist angeblich eine Computerwand. Immer wenn eine Flasche leer, ein Medikament zu Ende ist, piepst es da. Und wenn der Puls zu hoch wird, gellt ein schrecklicher, durchdringender Ton. Der Puls geht schnell in die Höhe. Einmal sitzen im Rollstuhl reicht. Die ersten Tage im Koma seien wie Hochleistungssport, sagt die Ärztin zu mir. Ich bin erschöpft.
Mein Freund ist da. Er erzählt. Harmloses. Anekdoten. Vom Alltag. Es lenkt ab. Wie er die Zeit erlebt hat, wird er mir erst Wochen später sagen. Dass ich im Koma ausgesehen hätte wie ein Sumo-Ringer. Der Kopf war doppelt so groß wie sonst. „Wenn man deinen Arm leicht berührt hat, hinterließ das einen tiefen, stundenlang anhaltenden Abdruck.“ Die Nieren arbeiten nur eingeschränkt in dieser Zeit, das Wasser staut sich.
Trotzdem: Es gibt kleine Erfolge. Die Doppelbilder verschwinden eine knappe Woche nach dem Aufwachen. Ich sehe wieder einen Joghurtbecher auf dem Tablett, wenn einer dasteht. Nicht zwei. Ich greife mit dem Löffel nicht mehr daneben. Ich kann mir fast allein die Zähne putzen. Es dauert. Ich kann kaum Druck auf die Bürste ausüben und bin nach fünf Minuten verschwitzt. Aber immerhin, ich halte die Bürste.
Eine Woche nach dem 4. September schaffe ich es zum ersten Mal, mich allein im Bett aufzurichten. Mir kommen die Tränen vor Freude. Dann erinnere ich mich: Gut vier Wochen vorher bin ich mit Tempo 26 auf dem Rennrad den Schäferberg nach Potsdam hinaufgefahren. War das ein anderes Leben?
Erinnerung
Auch andere Erinnerungen melden sich zurück. Als der Kopf in der Röhre steckt, zum Durchleuchten, kommen sie mit einem Schlag. Der Ausflug nach Sachsen. Die Bauchschmerzen, heftige Koliken, so stark, dass ich kaum gehen kann. Die Fahrt von der einzigen Ärztin im Ort ins Krankenhaus. Die Stunden in der Notaufnahme, Untersuchungen, bis klar war: Ich schaffe es nicht mehr bis Berlin, ich muss hier operiert werden. Mit der Erinnerung kommt die Ernüchterung, das Wissen um meinen Zustand. Ich werde nicht bis zur Bundestagswahl wieder arbeiten können. Ich werde auf absehbare Zeit nicht selbst entscheiden können, wann ich Kaffee trinke und wie ich ihn trinke. Ich bin abhängig von Kabeln, Medikamenten, Menschen. Ich weine. Ich will zurück in mein eigenes, altes Leben.
Die ersten Schritte mit dem Rollator. Aufsetzen, an die Bettkante, vorsichtig herunterrutschen. Stehen. Zehn Sekunden, fünfzehn. Hinsetzen. Ich zittere. Aufrichten, am Rollator festhalten. Der Nachthemdkittel schlottert. Ich komme mir lächerlich vor, aber ich bin ehrgeizig. Ich will bis zum Ende des Flurs, und diese fünfundzwanzig Meter schaffe ich. Die Physiotherapeutin freut sich. Sie lobt mich. Ich schlafe erschöpft ein.
Meine Verzweiflung indes wird größer. Wie lange noch? Im Bett? Im Krankenhaus? Überhaupt? Ich müsse Geduld haben, sagt die Oberärztin. Ich sei „schwerstkrank“ gewesen, und das sei erst eine gute Woche her. Schwerstkrank – mir fällt sofort auf, dass ich gelernt habe, in meinen Texten Superlative nicht zu verwenden. Egal. Es könne und werde wohl ein halbes Jahr dauern, bis ich mich wieder allein zu Hause versorgen kann. Ich solle ruhen, essen, schlafen. Ich mag nicht mehr.
Meine Eltern kommen seltener. Zwei Wochen lang haben sie täglich damit rechnen müssen, dass ihr Kind stirbt und sie ohnmächtig daneben stehen. Jetzt bin ich über den Berg und werde der Bemutterung überdrüssig. Ich bin unfair. Später werde ich dankbar sein, jetzt will ich meine Ruhe haben. Mein Freund kommt an den Wochenenden. Ein Lichtblick, regelmäßige Vorfreude. Aber auch er versteht nicht. Wie soll man verstehen, wie es sich in einem Intensivstationsalltag lebt, der von Waschen, Eserwähntsen und Rollatorübungen bestimmt ist? Dazu die Enttäuschungen, Rückschläge, Magenschmerzen, die Kraftlosigkeit.
Dann endlich die ersehnte Nachricht: In einer Rehabilitationsklinik ist ein Platz frei geworden. Ich werde ein richtiges Bett haben, ein Telefon. Ein Radio.
Und jeden Tag eine Treppenstufe mehr.
Anfang Oktober schaffe ich zwanzig. Ich gehe ohne Hilfe in den Speisesaal im Erdgeschoss. Ich spaziere einmal um den See. Ich frage nicht mehr „Warum ich?“
Andere fragen das auch nicht. Die junge Frau aus Polen, die seit Monaten auf der Intensivpflegestation des Krankenhauses liegt. Sie war mit ihrer Familie im Auto unterwegs, als vermutlich eine Ölspur den Wagen schlingern ließ. Seit Wochen liegt sie, sitzt im Rollstuhl, isst mühsam ein Toast von einem Brett, das an den Rändern mit Nägeln gespickt ist. Damit das Brot nicht herunterfällt.
Oder die Frau mit den kurzgeschorenen schwarzen Haaren, Anfang vierzig. Seit einem halben Jahr ist sie in der Klinik, immerzu an das Krankenhausgelände gefesselt. Ein Motorradunfall in Thailand, sie lebt dort. Der ganze Schädel war offen, eine Seite komplett gelähmt. Sie weiß nicht, ob sie jemals wieder als Tauchlehrerin arbeiten wird. Wenige Jahre zuvor hat sie Mann und Kind im Tsunami verloren. Wir treffen uns abends auf der Bank oberhalb des Sees. Der Weg nach unten scheint unüberwindbar – was, wenn uns die Kraft dazu fehlt? Kämpfe, sagt sie zu mir, mach mehr, übe abends. Sie motiviert mich, zurück ins Leben.
Mit den Fortschritten kommen die Freiheiten. Der erste Spaziergang allein ins Dorf. Cappuccino in der Eisdiele. Ohne abmelden. Es ist warm, Spätherbst. Mit dem Besuch in ein Restaurant essen gehen, den Speisesaal mit seinen immergleichen Käsebroten abends links liegen lassen. Das reicht erst einmal. Absolute Selbstbestimmung, zurück in der Wohnung, im alten Leben – der Gedanke überfordert mich. Kann ich das noch? Schaffe ich das?
Der Anfang der Geschichte ist mehr als vier Monate her. Der Körper erholt sich, er kämpft mit Spätfolgen. Die Seele aber braucht länger. Vielleicht ist die Geschichte doch zu Ende; vielleicht wird sie einfach weiter erzählt. Ein zweites Leben gibt es nicht. Aber das eine, das es gibt, ist intensiver geworden.
Ich bin da.
■ Kristina Pezzei, 32, Berlinredakteurin der taz, fährt im normalen Leben leidenschaftlich gern Rennrad. Nicht nur in Berlin