So lange der Mensch singt

Mit dem musikalischen Abend „Die Fruchtfliege“ kehrt Christoph Marthaler an die Volksbühne zurück. Das Stück dreht sich um die biologistische Deutung menschlichen Verhaltens und ist getragen von schön verständlichem Leichtsinn

Sie sind schwer im Kommen: die Biologen und Psychologen, die Geschlecht und Charakter aus einer Geschichte der Evolution erklären. Populäre Ratgeber machen davon in allen Medien begeisterten Gebrauch: Schon lange nicht mehr waren die Strickmuster, was Mann und was Frau ist, so schlicht und jedes Wissen über die soziale Konstruktion des Geschlechts so weit verbannt in akademische Genderdiskurse. Gefühle, behaupten diese Wissenschaftler, sind auch nur Ergebnis gewisser Stufen der Evolution.

Das ungefähr ist das Setting, in dem Christoph Marthaler seinen neuen musikalischen Abend „Die Fruchtfliege“ ansiedelt. Wir befinden uns in einem Labor, das die Zusammenhänge zwischen der Weitergabe der DNA und der Liebe an Fliegen erforscht. Warum gerade Fliegen, erklärt eine der Wissenschaftlerinnen am Anfang, aber wie bei allen folgenden Expertisen auch, behält man doch mehr ihr fliegenbeinähnliches Zucken während des Vortrags im Gedächtnis als den Gang der Argumentation.

Damit ist auch schon klar: Christoph Marthaler zeigt sich zwar erschreckt von einem Paradigmenwechsel, der der Biopolitik die Bestimmung gesellschaftlicher Leitgedanken überlässt. Aber er steigt auf ihre Logik nicht ein und versucht auch keine diskursive Auseinandersetzung. Er spielt und jongliert vielmehr mit ihren Glaubenssätzen. Um ihrem Duktus des Rationalen dann stets in den Körpern der Spielenden und Singenden den Ausdruck eines ganz anderen Verlangens entgegenzuhalten, das allerdings stets im Kostüm des Vergangenen auftritt.

Statt auf den Diskurs setzt er auf den Gesang. Welche Funktion in der Evolution des Menschen hat das Singen? Diese nie gestellte Frage lauert hinter allem und die Antwort ist schon das ganze Programm. Im Überflüssigen finden wir, was das Bild vom Menschen und seiner Kultur ausmacht. Der Zeitpunkt, von dem aus Marthaler seine Geschichte erzählt, lässt sich nicht genau verorten: Er behauptet Zukunft und sieht doch, wie meistens in der Ausstattung von Anna Viebrock, schon ziemlich angefressen vom Zahn der Zeit aus.

Die Stimmen sind in dieser Inszenierung von unerhörter Körperlichkeit. Die sieben Schauspieler und Schauspielerinnen singen, begleitet nur von einem sehr malerisch agierenden Pianisten, Arien und Duette aus Opern, Operetten und Musicals und romantische Lieder. Sie erinnern dabei in ihrer körperlichen Statur und den Gebärden stets mehr an die musikalischen Enthusiasten, wie sie zum Beispiel Wilhelm Busch gezeichnet hat, denn an den Auftritt von Sängern heute. Ob Verdi, Strauss, Donizetti, Puccini, Strawinsky, Hollaender oder Webber, nie hat ihr Low-Tech-Gesang ohne Verstärker und Mikro jene triumphierende Grundierung und jenen Vorschein von Perfektion, mit dem sonst Musik, gerade auch der Hochkultur, angeboten und verkauft wird. Die Stimmen sind hier nicht größer als die Menschen, und so simpel das klingt, verleiht das noch jeder Marthaler-Inszenierung etwas Einmaliges.

Die Musik ist auch das eigentliche Element, in dem der Abend wurzelt; die Erzählung von den Wissenschaftlern bildet den Anlass, die Gefühlsintensität der Lieder als Forschungsmaterial zu betrachten. Denn neben den Fliegen stellt das wissenschaftliche Personal selbst den Forschungsgegenstand. Die meisten von ihnen sind unglücklich, obwohl sie doch anhaltend am Beweis arbeiten, dass Unglück und Glück keine relevanten Kategorien für den Erhalt der Art darstellen.

Gefühlig wird dieser leichtsinnige Abend, mit dem Christoph Marthaler seine Rückkehr an die Berliner Volksbühne feiert, nicht. Da ist der Witz und der Spott davor, der jede Lust am Sentimentalen und am großen Aufwühlen begleitet. Das ewige Gerangel zwischen Vernunft und Wunsch etwa bildet sich ab, wenn Doktor M. jedes Mal, nach dem er ergriffen von der eigenen Sehnsucht auf der Geige gespielt hat, diese voller Wut zertrampelt. Den Furor einer Mazurka lebt ein Paar, nachdem es lange über den Boden kugelte, aus, indem sie ihre Zähne in einen Apfel schlagen. Tristan und Isoldes Liebestod sterben hier zwei miteinander vernähte alte Mäntel. Und das Drängen von Strawinskys „Sacre du Printemps“, das im Tanztheater und Ballett oft mit peinlichen Stereotypen vom Drängen des Triebes illustriert wird, übersetzt die Truppe in ein schabendes, schrubbendes Putzen der Zähne.

So könnte man fort- und fortschwärmen vom klugen Gebrauch der Musik. Der Abend ist, gemessen an dem, was man von Marthaler kennt, zwar nicht überraschend neu. Sicherlich war ein Motiv sein Engagement in Bayreuth als Regisseur für „Tristan und Isolde“. An der Volksbühne scheint er sich nun, wie vor ihm schon Christoph Schlingensief in „Kunst und Gemüse“, von der Künstlerseele zu schrubben, was sich dort nicht einbringen ließ. Dass er dabei den biologistischen Klugscheißern eins auf die Mütze haut, ist zwar nicht gerade revolutionär, aber doch beruhigend und nett.

KATRIN BETTINA MÜLLER

Nächste Aufführungen der „Fruchtfliege“ am 25. Dezember und 14. Januar in der Volksbühne