: Licht ins Dunkel der Repression
Die marokkanische Wahrheitskommission legt ihren Bericht über die Repression unter dem verstorbenen König Hassan II. vor. Menschenrechtlern geht er nicht weit genug
MADRID taz ■ Marokko arbeitet seine dunkelsten Jahre auf. Die „Instanz für Fairness und Aussöhnung“ (IER) veröffentlichte am Wochenende eine erste Zusammenfassung des Abschlussberichts ihrer Arbeit. Das Dokument beschäftigt sich mit den „bleiernen Jahren“, die Periode, in der Hassan II., der Vater des jetzigen Königs Mohammed VI., sein Land mit harter Hand regierte. 592 Menschen kamen laut IER zwischen 1959 und 1999 ums Leben, über 600 verschwanden spurlos in Gewahrsam der Geheimdienste, Armee oder Polizei.
16.861 Dossiers füllen die IER-Akten. In 9.779 Fällen wurde bisher eine Entschädigung genehmigt. Mit Hilfe der Informationen aus den Anhörungen ehemaliger Gefangener und Zeugen wurden die Leichen von 663 Menschen gefunden, die bisher als verschwunden galten. Den jüngsten Fund machte die erste und bisher einzige Wahrheitskommission in der arabischen Welt auf einem Fußballplatz in Casablanca. Ein ehemaliger Spieler soll die IER auf die Spur von 81 Leichen gebracht haben, alles Opfer der Repression gegen soziale Unruhen im Juni 1981. Die Auseinandersetzungen mit der Polizei waren die Folge eines Generalstreiks, zu dem alle großen Gewerkschaften aufgerufen hatten. 66 Menschen seien dabei ums Leben gekommen, lauteten die offiziellen Angaben. Die Gewerkschaften gehen von hunderten aus. Die Funde dürften letztere Version bestätigen.
Vor wenigen Wochen wurden an einer anderen Stelle bereits 31 Tote gefunden. Auch in Fes fanden die Menschenrechtler zwei Massengräber mit den sterblichen Überresten von 106 Menschen. „Die Opfer stammen von einer Demonstration am 14. und 15. Dezember 1990“, heißt es in einem Kommuniqué der IER. Auch damals hatten die Gewerkschaften gegen die schlechten Lebensbedingungen mobilisiert.
Abgesehen von den Opfern der Repression bei sozialen Protesten geht die IER auch einem der bestgehüteten Staatsgeheimnisse auf den Grund. Erstmals wurden auf dem Gelände des einstigen Geheimgefängnisses Tazmamart Exhumierungen durchgeführt. Mit Hilfe der Aussagen von Überlebenden und ehemaligen Wärtern konnten dieser Tage 32 Tote geborgen werden. Nach Tazmamart im Atlasgebirge, 450 Kilometer von der Hauptstadt Rabat entfernt, wurden Militärs verbracht, die 1971 und 1972 versucht hatten, König Hassan II. zu stürzen. „Sie ließen uns ein Loch (in der Wand der winzigen unterirdischen Zellen, d. Red.), gerade groß genug, um atmen zu können, damit wir lange genug lebten und genügend Nächte hatten, um die Verfehlung zu sühnen“, erzählt ein Überlebender im Buch „Das Schweigen des Lichts“, in dem der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun die Erinnerungen von Repressionsopfern zusammengetragen hat.
Die 17-köpfige IER wurde 2003 von König Mohammed VI. ins Leben gerufen, um „die Wahrheit über die schweren Menschenrechtsverletzungen herauszufinden“. Ab Dezember 2004 hörte die Kommission ehemalige Repressionsopfer an. Fernsehen und Radio berichteten live über die Anhörungen. Der Abschlussbericht der IER wurde bereits Ende November dem König vorgelegt. Dieser „befahl“ jedoch erst jetzt seine Veröffentlichung. „Die Verantwortung des Staates bei den Menschenrechtsverletzungen ist geklärt und durch nichts zu entschuldigen“, erklärte IER-Präsident Benzekri, der selbst 17 Jahre Haft als politischer Gefangener verbüßte, als er jetzt in Rabat den Bericht vorstellte. Die Konsolidierung des Rechtsstaats „verlangt nach Reformen im Sicherheitsbereich, in der Justiz, Gesetzgebung und Haftpolitik“. Außerdem fordert die Kommission ein Ende der Straffreiheit für die Täter.
Die IER durfte zwar die Geschichte der „bleiernen Jahre“ aufarbeiten, ohne aber die Täter beim Namen zu nennen oder gar vor Gericht zu bringen. Während die Regierung den Bericht begrüßt und den „festen Willen“ des Königs lobt, die Missstände aufzuarbeiten, kommt von der Marokkanischen Menschenrechts-Assoziation (AMDH) Kritik. „Die IER hat weniger als die Hälfte dessen geleistet, was wir von ihr erwarten“, erklärt der AMDH-Sprecher und ehemalige politische Gefangene Mohammed El-Boukili. Die Opferzahlen seien viel zu niedrig gegriffen. „Es sind weit mehr als 600 Menschen verschwunden, und die Bilanz der Repression in Casablanca und Fes beläuft sich auf weit über 1.000 Tote.“ Die gerichtliche Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen stehe aus. Auch die Polisario, die Befreiungsbewegung in der von Marokko besetzten Westsahara, beklagt sich. Die 500 Verschwundenen seien nicht alle in den Bericht aufgenommen worden.