Die roten Lippen der Flapper Girls

NEOJAZZ Electroswing ist ein aufregender Sound, in dem elektronische Beats auf das Knistern von Schellackplatten treffen. Zu den Partys der Szene kommen Hunderte, schick zu sein gilt nicht als spießig

VON JENS UTHOFF

Ein harter, lauter Beat, elektronisches Wabern. Auf einmal stoppt das Wummern der Basstrommel abrupt – Knistern ist jetzt zu hören. Ein Grammofon? Klavier und Bläser setzen ein, dann ein paar jazzige Gitarren. Hört sich an, als habe Django Reinhardt die Technoparty gestürmt, als sei Opa Jazz zusammen mit Papa Swing in den Saal spaziert und habe dem juvenilen Treiben ein Ende bereitet. Aber nein: Plötzlich vereinen sich Beats und Swing, eine Stimme legt sich sanft darüber.

Die musikalische Melange nennt sich Electroswing. Auf den Berliner Dancefloors ist die elektronische Variation von Swing an verschiedenen Orten zu hören, in der Stadt hat sich eine starke Szene formiert: „Neben London und Paris ist Berlin mittlerweile ein weiteres wichtiges Zentrum für den Electroswing geworden“, sagt Johannes Heretsch, Veranstalter der Partyreihe Electro Swing Revolution im Astra Kulturhaus.

Beim Electroswing wird der in den Zwanzigern und Dreißigern des vergangenen Jahrhunderts in den USA entstandene Swing mit der elektronischen Soundproduktion von heute zusammengebracht. Dabei sampeln die DJs häufig alte Jazz- oder Swingstücke und verarbeiten sie zu einem Remix – aber natürlich werden auch eigene Stücke komponiert. Die Beats nehmen das meist flotte Tempo des Swings auf.

Zu den Partys von Heretsch finden sich bis zu tausend Tänzerinnen und Tänzer ein: „Es kommen Leute quer durch den Garten zu uns. Die Hipster kommen, weil sie Elektrobeats hören wollen, und die Jazzliebhaber lieben das Knistern der Schallplatte“, sagt Heretsch. Er selbst und sein Partner Wolfram Guddat veranstalten die Reihe seit Mai 2012 und stehen auch hinter dem DJ-Pult.

Wenn man Berlin zur Electroswinghochburg erklärt, ist das mehr als das Beschwören eines Hypes. Auch der Electro Swing Club im Festsaal Kreuzberg ist fast immer gedrängt voll, daneben gibt es noch weitere Veranstaltungsreihen, wo man den neuen Sound hören kann. Die Veranstalter des Electro Swing Clubs, Gian Köhler und Martin Heuser, brachten im vergangenen Jahr im Mai weit mehr als 10.000 Besucher auf dem Tempelhofer Feld zum elektronischen Swingen. „Es gibt auch immer mehr Bands, Tänzer und Kleinkünstler, die sich der Musik und Szenerie der zwanziger und dreißiger Jahre verschreiben“, sagt Sarah Reichardt, die für den Electro Swing Club die Öffentlichkeitsarbeit macht. Sie erlebt die Szene aber nicht als übersättigt. Derzeit scheint die Nachfrage so groß, dass die beiden konkurrierenden Veranstaltungsreihen bestehen können.

Der Stil wurde um die Jahrtausendwende in London geprägt und hat sich seitdem in vielfältige Formen weiterentwickelt. Einflüsse aus anderen Spielarten des Jazz und aus dem Blues sind zu hören – bisweilen entwickeln sich eigene starke Genres daraus wie etwa der Electroblues. „Es ist eben nicht einfach Altes, das nur neu aufgewärmt wird“, sagt Johannes Heretsch. Er ist 47 und legt seit den frühen Achtzigern Platten auf. In der DDR ließ er dissidentische Liedermacher auf dem Plattenteller kreisen, heute findet er Vintageremixes besonders spannend: „Dabei geht es darum, Elemente des Swings, Mambos, Gospels und Jazz der zwanziger bis fünfziger Jahre mit Elektrobeats zu etwas Neuem zu formen“, sagt er.

Schminken als Revolte

Um Style geht es natürlich auch. Die Frauen kleiden sich gern wie die revoltierenden Flapper Girls in den Zwanzigern. Schminken und Schickmachen gilt hier gerade nicht als weiblich opportunes Verhalten, sondern als Zeichen von Selbstbewusstsein. Hüte werden getragen, allerdings nur, wenn die Männer und Frauen ihren Schopf nicht schon in den Pomadetopf getunkt haben. Vor allem wollen sie Spaß haben in dieser Nacht. Dazu passt, dass es auf den Partys der Electro Swing Revolution ein Programm mit Hula-Hoop-Reifen gibt.

Obgleich seine Veranstaltung die Revolution im Namen trägt, möchte Heretsch die Musik nicht überhöhen. „Das ist in erster Linie nichts Politisches.“ Sein Partner Wolfram Guddat sieht hingegen schon eine politische Dimension: „Ich finde, Electroswing hat etwas Revolutionäres“, sagt er. „Durch den Mix der Stile und die Offenheit der Szene findet da auch Völkerverständigung statt.“ Beim Revival des konventionellen Swingtanzes in den vergangenen Jahren bekam die Tanzkultur oft eine politische Note, weil sie in der NS-Zeit als „entartet“ galt und die Musiker und Tänzer verfolgt wurden – man verband Musik und politische Bildungsarbeit.

In Berlin haben sich inzwischen auch einige Electroswingbands gebildet. Die Dirty Honkers etwa, eine seit 2009 existierende Gruppe, die aus israelischen, französischen und kanadischen Mitgliedern besteht, veröffentlicht im April ihr neues Album „Superskunk“. Ihre Musik bezeichnen die Dirty Honkers als „Electroswingpopterror“. Nova fliegt zum Mond – eine ebenfalls bunt zusammengewürfelte Truppe aus ganz Europa – vereint Balkansounds und Gypsymusik mit Swing, der elektronische Anteil ist hier deutlich geringer. Das Electronic Swing Orchestra dagegen hat einem deutlich zeitgenössischeren Sound. Es veröffentlichte im vergangenen Jahr „The Electronic Swing Orchestra and the Mysterious Chaos Machine“. Dort gibt es zwischendurch auch mal Technobeats zu hören, wenn alte Hits gesampelt oder remixt werden. Bis das Gewummer der Bässe dem Knistern des Grammofons weicht.

■ Heute, Samstag, im Astra- Kulturhaus: Electro Swing Revolution, Malta Special, www.electroswing-revolution.de

■ 19. April, Festsaal Kreuzberg: Electro Swing Club, live: Dirty Honkers, www.electroswingclub.de

■ jeden Montag im Sophien club: Electroswingabend, www.electric-swing.de