: Optische Anker im Hier und Jetzt
ARCHITEKTUR Bei der Betreuung von alten Menschen kommt Farbe und Form große Bedeutung zu: „demenzfreundliche“ Architektur soll sinnlich erfahrbare Referenzpunkte im Raum schaffen
VON ANGELIKA SYLVIA FRIEDL
In der sachlichen Architektur der Moderne ist klare Kante gefragt. Doch das ist nicht in allen Lebensbereichen wirklich hilfreich: der organische Architekturimpuls der Anthroposophie erlebt deswegen gerade im sozialen und therapeutischen Bereich eine Renaissance. Besonders bei der Betreuung von alten Menschen kommt dem intuitiven Zusammenwirken von Farbe und Form besondere Bedeutung zu: eine „demenzfreundliche“ Architektur soll sinnlich erfahrbare Referenzpunkte im Raum schaffen.
Wie gut diese Idee in der Praxis funktioniert, zeigt etwa das Projekt „Aja’s Gartenhaus“ in Frankfurt am Main. Das 2007 errichtete Wohnheim ist dem Sozialpädagogischen Zentrum für Lebensgestaltung im Alter, dem Haus Aja Textor-Goethe, angeschlossen. Im Gartenhaus leben jeweils acht demenzkranke Menschen in vier großen Wohnungen zusammen. Zentrum und Kraftquelle jeder Wohnung stellt der etwa hundert Quadratmeter große Gemeinschaftsraum dar. Hier gibt es reichlich Platz für eine Küche mit Kochinsel, einen Essplatz für zehn Personen sowie abgetrennt durch flexible Raumteiler, ein Wohnzimmer mit Sofas, Sesseln und einer Ofenbank. Vom Kochplatz aus haben die Mitarbeiter, „Lebensbegleiter“ genannt, einen guten Überblick auf den Raum und auf die acht L-förmig angeordneten Einzelzimmer, die sich jeweils rechts und links um den Raum herum gruppieren. „Es gibt also nur drei Elemente, rechts, Mitte und links. Das können die Bewohner leicht überschauen, ohne herumzuirren“, erläutert Uwe Scharf, der Leiter des Zentrums. Auch die Farbgebung des Hauses und der Wohnungen sollen die Sinne anregen. Das ganze Wohnumfeld ist daher in warme Farbtönen getaucht, vom rötlichen Ocker über sandfarbene Töne bis hin zu einem sonnigen Gelb.
Geborgenheit und Sicherheit werden so vermittelt, genauso wie durch die Form des großen Baderaum, in dem kaum ein rechter Winkel zu finden ist. Decken- und Wandflächen hat ein fantasievoller Künstler kantenlos miteinander verbunden – das Gemeinschaftsbad sieht wie eine Höhle aus und kommt der Idee des Organischen sehr nahe. „Insbesondere bei der Gestaltung der alltäglichen Lebensräume ist es wichtig, mit verschiedensten Elementen Vertrautheit, Überschaubarkeit und Kontrollierbarkeit der Umgebung zu vermitteln“, erklärt Uwe Scharf. Viel Licht hilft dabei, so ist der Gemeinschaftsraum nach Süden ausgerichtet und besitzt eine große Fensterfront. Lange, unbelichtete Flure gibt es nicht. Die Fußböden der Zimmer, der Koch- und Essecke sowie des gemeinsamen Wohnbereichs haben jeweils unterschiedliche Farben. So sollen die Bewohner besser erkennen, wo sie sich gerade befinden.
Organische Architekturentwürfe aus dem Umfeld der Anthroposophie bevorzugen polygone Winkel, also Drei-, Vier- und Sechsecke. Gute Beispiele für diesen Baustil sind neben dem Haus Aja-Textor Goethe die Filderklinik in Stuttgart und das Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke. Sie heben sich weniger von ihrer Umgebung ab als andere Funktionsbauten. Vor allem die langgestreckten Gebäude und das leicht geschwungene Dach der Filderklinik erinnern an Hügelrücken in einer Landschaft. Die Häuser wirken einladend und warm, aber mit ihren polygon gerundeten Formen auch etwas unübersichtlich. Könnte denn das strahlend gelbe und kubistisch anmutende Bad in Aja’s Gartenhaus demenzkranke Menschen nicht auch durcheinanderbringen? „Das ist ein Raum für herausgehobene Zeiten, in denen es eine in der professionellen Pflege so seltene Eins-zu-eins-Beziehung gibt, und das etwa 30 bis 45 Minuten lang“, beruhigt Scharf. „Unsere Bewohner und die Mitarbeiter fühlen sich hier sehr geborgen.“