Wer fährt da freiwillig hin?

Das „Hauptstadtbuch“ bemüht sich gar nicht erst um Berlin als Metropole: Die Anthologie sucht nach dem Unscheinbaren und Unglamourösen. Nach Berlin eben

Der Hauptstadt-Hype der Neunziger ist vorbei. Bei einem aktuellen Ranking der dreißig beliebtesten Metropolen hat Berlin gerade mal den zehnten Platz erreicht. So trifft es sich richtig, dass der Verbrecher Verlag mit dem neuen „Hauptstadtbuch“ nicht auf die große Nummer, sondern aufs kleine Unscheinbare setzt.

Dass sie davon was verstehen, haben Jörg Sundermeier und Werner Labisch schon bewiesen, als sie sogar Bielefeld einen Band ihrer Stadtbuch-Reihe widmeten. Nun haben die beiden Herausgeber knapp dreißig Autoren, Fotografen und Zeichner eingeladen, Berlin von den Rändern her zu erkunden und einem Sound der Stadt nahe zu kommen, wie ihn noch kein Ranking verzeichnet.

Der Star des Buchs ist Sven Regener. Der Experte für melancholische Rhythmen hat ein paar Verse über den kalten Winter an Berliner Imbissbuden geschrieben, die auch ohne das Element of Crime-Trompetensolo reichlich schön traurig sind. Passend dazu philosophieren OLs Comic-Krakelfiguren sympathisch berlinernd und erbärmlich Bier trinkend über den Lauf der Welt. Wer sich mit ihnen identifiziert, darf den guten Stolz empfinden, in einer Stadt zu leben, in der Frittenbudenexistenz und Eckkneipendasein viel Poesie haben.

Aber nicht alles, was es ins „Hauptstadtbuch“ geschafft hat, kommt dieser Poesie nahe. Eine Reihe von Texten bleibt in der einschlägig bekannten Lesebühnenbelanglosigkeit stecken, die man vielleicht gut hören kann, aber nicht unbedingt lesen muss. Ganz ohne Inspiration erzählen etwa Nils Folckers und Martin Hiebl, was der Tag so hergibt, wenn man ein paar weiße Seiten füllen muss. Auch der notorische Dauerredner Jörg Schröder ist mit von der Partie. Diesmal geht es um seine Kindheit im Ostberliner Stadtteil Niederschönhausen, und wie immer ist seine treue Protokollantin Barbara Kalender zuständig für die schriftliche Fixierung seiner Monologe. Kann man bei Schröder wenigstens noch ein paar Bildungsschnipsel über die Geschichte der DDR aufschnappen, so schrammen Texte wie „Berlin ist super, Landei“ von Sarah Herke so nah an der Schülerzeitung vorbei, dass man sie nur als letztes Lobliedchen auf den Dilettantismus lesen kann.

Zum Glück bauen in diesem Buch aber so viele Beiträger an der Physiognomie Berlins mit, dass man dann doch immer wieder auf überraschende Texte und Bildsequenzen stößt. Susanne Klingner listet in „Berlin, leben nach Zahlen“ kommentarlos Statistiken. Der Jungle-World-Redakteur Stefan Wirner hat sein Material in verschiedenen Tageszeitungen gefunden. In einem Verfahren, das er schon in mehreren Buchveröffentlichungen erprobt hat, montiert er Kommentare zur Eröffnung des Kanzleramts zu einem Stimmungsgefüge der Berliner Republik.

Solche Listen, Montagen und Collagen zeigen, wie eng in diesem Band Text und Stadt miteinander verknüpft sind und sich so gegenseitig mit Bedeutung aufladen. Jana Schmidt schafft es mit ihrer Erzählung „Zimmer Berlin“, dieser Verwobenheit von Menschen, Büchern und Stadt eine geradezu magische Komponente zu verleihen. Wenn ihr Ton dabei manchmal droht, ins Elegische zu kippen, kommt gleich ein gut gelaunter Peter O. Chotjewitz daher, um die Schwere wieder aufzuheben. Schüttelreimend arbeitet er sich durch die deutsche Städtelandschaft: „Frankfurt, Kölle, Berlin! / Wer fährt da freiwillig hin? / Da liegen mehr verfrorne Hunde in der Scheiße / als in Görlitz an der Neiße!“ Kein Grund offenbar, den ungezählten Berlin-Anthologien nicht eine weitere hinzuzufügen: Bekannte Zutaten ergeben einmal mehr den üblichen Berlin-Geschmack. Aber wer braucht schon ständig Neues: Zu Hause schmeckt es doch immer noch am besten. WIEBKE POROMBKA

Werner Labisch, Jörg Sundermeier (Hg.): „Hauptstadtbuch“. Verbrecher Verlag, Berlin 2005, 176 S., 7,95 € Buchvorstellung heute Abend um 20.30 Uhr im Festsaal Kreuzberg, Skalitzer Str. 130