Wegkratzen zu Weihnachten

Zugverspätung am Heiligen Abend. Von Personenschäden im Bahnverkehr

„Muss das ausgerechnet heute sein? Das dauert ewig, bis die den weggekratzt haben“

Bernhards kleine, dicke Zunge fährt über die dicken Lippen in seinem dicken Gesicht. Bernhard hat eine Brille und korrekt geschnittene, langweilige Haare. Bernhard fährt im ICE und ansonsten einen Vectra.

Sabine sitzt ihm gegenüber und nickt gleichgültig. Da trifft es sich gut, dass das Klapp-Handy Beethoven spielt und Bernhard wichtig hineingucken kann. „Das ist meine“, erklärt er Sabine stolz. „Der hab ich gesimst, dass ich fünfzehnvierzig ankomme. Hat sie zurückgesimst ‚endlich‘. Na ja – fünf Wochen getrennt … da muss ich gleich …“ Er zieht eine draufgängerische Schnute und tippt auf eine eingespeicherte Nummer: „Hallo, ich bin’s, dein Bär, also du, es klappt fünfzehnvierzig …“

Sabine reißt ebenfalls ihr Klapp-Handy aus der Tasche: „Maaamiiiii. Jjja iiiich biiins. Duhuu kann mich der Paapiii …?“ Sabine mutiert in Zehntelsekunden zu einer höchstens Dreijährigen, und Bernhard, der Bär würde wohl denken: „Wie süß die ist“, er muss sich aber auf sein Handy konzentrieren. Sie hören gleichzeitig zu telefonieren auf, und Bernhard ruft froh und so laut, dass es hoffentlich alle hören: „Na ja, fünf Wochen. Schon lang. Wenn das klappt, da unten, nehm ich mir eine Zweitwohnung.“ Sabine kuckt wie interessiert und gähnt.

Plötzlich wird der Zug langsamer und langsamer und hält schließlich. Bernhard glotzt großäugig aus dem Fenster: „Wo hält denn der, das ist doch niemals Erlangen …“ Sabine kriegt auch einen langen Hals und muss zustimmend den Kopf schütteln: „Niemals … na ja, das wird wohl so eine Schneeverwehung sein.“

Da kommt auch schon die Stimme aus dem Lautsprecher: „Liebe Fahrgäste! Auf Grund eines Personenunfalls müssen wir mit einer Verzögerung unbestimmten Ausmaßes rechnen. Wir bitten um Ihr Verständnis.“ Bernhard ist sofort in höchster Erregung: „Na Bravo. Personenunfall. Hat sich wieder einer vor den Zug geschmissen. Hundertpro.“ – „Muss das ausgerechnet heute sein, am Heiligen Abend?“ Sabine versteht solche Leute nicht. Da ist Bernhard, der Bär aber schon wesentlich weiter: „Weil sie krank sind. Die sind krank.“ – „Unmöglich. Das dauert jetzt ewig“, meint Sabine, „ich kenn das. Ich war mit einem Polizisten zusammen, früher, ich weiß das. Das dauert ewig, bis die den weggekratzt haben.“

Wie auf Kommando klappen beide die Klapp-Handys auf und simsen, was das Zeug hält. Bernhard ist als Erster fertig und fotografiert sich mit dem Handy und schickt das Bild zu der Seinen. Die Stimme aus dem Lautsprecher: „Wegen eines Personenschadens wird sich die Weiterfahrt um unbestimmte Zeit verzögern.“ Bernhard und Sabine müssen gleichzeitig die Köpfe schütteln: „So kurz vor Erlangen – ärgerlich.“ Dann sagt Sabine: „Meistens bleiben nur noch die Schuhe auf den Schienen …“ – „Nur noch die Schuhe? Warum denn das?“ Bernhard staunt nicht schlecht. „Das muss wegen dem Luftdruck sein. Oder so was in der Art. Jedenfalls ist alles durch die Gegend verstreut, nur die Schuhe, sind noch auf den Schienen …“ Sabine kennt sich aus und malt sogar die Schuhe in die Luft.

Bernhard hat aber andere Sorgen: „Wenn das noch sehr lange dauert, dann haben sie bald den nächsten Patienten.“ Bernhard tippt sich auf die dicke Brust. „Unterzucker. Wenn ich …“, er studiert die Armbanduhr, „innerhalb von 50 Minuten nichts zu essen kriege: Gnadenlos Unterzucker … weil erstens hab ich kein Geld mit und zweitens ist der Speisewagen geschlossen.“

Bernhard macht seine „Ich hab kein leichtes Schicksal, aber ich bin ein tapferes Kerlchen“-Augen. Er denkt: „Frauen mögen das.“ Aber da täuscht er sich. Sabines bleicher Mund in ihrem bleichen Gesicht wirkt sofort angewidert. Sie denkt: „Kein Geld mit? Was soll denn das heißen. Will der mich anpumpen? Und dann noch Zucker? Was soll denn das heißen? Kriegt der Schaum vor dem Mund? Das würde mir gerade noch fehlen, dass der umkippt und ich mich um das Riesenbaby kümmern muss.“

Sabine mag sich nämlich nicht um andere Leute kümmern. Sie klappt unentschlossen das Handy auf und zu. Da setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Gott sei Dank! Schon wird wild gesimst, und man schließt neue Abmachungen über Termine und Abholungen und neues, demnächst wohl zu erwartendes Glück. Und: da ist auch schon Erlangen! Bernhard muss jetzt aussteigen. „Also dann Sabine – vielleicht hört man ja noch voneinander – wenn es klappt mit dem Job in München! Dann nehm ich mir da unten eine Zweitwohnung … Hoffentlich klappt das – das wär schon schön. Weil mit Hartz IV, das wird kein Spaß!“

Sabine kann ihren Ekel nur schwer unter Kontrolle halten. „Hartz IV“? Soll das heißen: arbeitslos? Soll das heißen: keine Kohle? „Wünsch mir alles Gute!“ Bernhard winkt mit seiner dicken Hand: „Wir telefonieren!“ Sabine nickt in ihre Handtasche, in der sie nach dem Klapp-Handy sucht: „Ja, ja. Freilich.“ Und denkt: „Da kannst du lange warten.“ ALBERT HEFELE