: Giraffe Ruth und der wahre Islam
AUS KALKILIA SUSANNE KNAUL
Ruth, die freundliche Giraffe, kommt ohne Scheu auf die vier jungen Zoobesucher zu. Neugierig beugt sie ihren schönen langen Hals über den Zaun. Die beiden verschleierten Frauen und ihre etwa zwanzigjährigen Begleiter wagen sich zögernd an das Tier heran. Viele Leute kommen nicht mehr hierher in den Zoo von Kalkilia, seit die Stadt durch die israelischen Trennanlagen vom Umland abgeschottet ist. Vor fünf Jahren verlor Ruth hier ihren Gefährten Brownie. Das Tier wurde unruhig, als Soldaten Schüsse auf die Jungenschule abgaben, die direkt hinter dem Giraffengehege liegt. Brownie preschte panisch umher, bis er schließlich mit dem Kopf gegen eine Eisenstange schlug und umstürzte. „Wenn eine Giraffe am Boden liegt, stirbt sie“, erklärt Tierarzt Dr. Sami Khader, „der Blutdruck im Kopf bewirkt den sofortigen Hirntod.“ Vor Gram verlor Ruth zwei Wochen später ihr noch ungeborenes Giraffenbaby. Jetzt steht es Seite an Seite mit seinem Papa ausgestopft im Schuppen des Zoos.
Einen Lichtblick in Ruths traurigem Leben gibt es aber doch. In ein paar Monaten soll sie in ein neues Gehege verlegt werden, weg von der Jungenschule, weg von der Gefahr, nervenaufreibenden Unruhen ausgesetzt zu sein. Ihr neues Heim fällt zwar deutlich kleiner als das bisherige aus, dafür wird Ruth von Wasser und Palmen umgeben sein, nebenan ein hübsches Museum, an dem fleißig gebaut wird. Länger als drei Jahre hatte das Projekt geruht, bis im letzten Juni die neue Stadtverwaltung ins Rathaus gewählt wurde.
„Die Hamas hat den Bau wieder aufgenommen“, erklärt Dr. Khader sichtlich zufrieden. „Diese Leute können denken“, sagt er über den neuen Stadtrat. „Sie wollen das Beste für den Zoo.“ Sobald das Museum fertig ist, werden auch Brownie und Brownie junior einen würdigeren Platz bekommen als den ungemütlichen Schuppen, wo sich schon die Spinnen zwischen ihren Hörnern einnisten.
Haschem al-Masri, 44 Jahre alt, ist einer von „diesen Leuten“. In seinem geräumigen Büro hängt noch ein dekoratives Überbleibsel seines Vorgängers: ein Wandteppich mit dem Bild des verstorbenen Jassir Arafat. Al-Masri, der fromme Herr mit Vollbart und schwarzem Anzug, führt die Amtsgeschäfte, solange der Bürgermeister im Gefängnis ist. Seit vier Jahren schon hält die israelische Armee Wajih Nasal fest, ohne ordentliches Gerichtsverfahren. Mit dem „Verdacht auf Mithilfe bei Terroranschlägen“ begründet ein Militärsprecher die Haft des Bürgermeisters. Das hat die Einwohner Kalkilias nicht abgehalten, Nasal bei der Kommunalwahl ihre Stimme zu geben. Die neuen 15 Männer im Rathaus von Kalkilia gehören ausnahmslos entweder der Hamas oder einer anderen islamisch-fundamentalistischen Bewegung an. Zur großen Politik oder zu Selbstmordanschlägen will Vizebürgermeister al-Masri gegenüber der Presse nichts sagen, schließlich gehe es in seinem Amt lediglich „um Verwaltungsangelegenheiten der Stadt“.
Knapp ein halbes Jahr im Amt, brüstet er sich mit eindrucksvollen Errungenschaften. Als die Hamas zur Kommunalwahl antrat, waren ihre Ziele ein „professionelles Verwaltungssystem“ sowie „transparentere Finanzen“. Die höhere Effizienz der neuen Lokalregierung schaffe heute „gut viermal mehr neue Stromanschlüsse monatlich“ als früher, sagt al-Masri – bei „bis zu 50 Prozent weniger Kosten“. Ab Januar, also in anderthalb Wochen, soll zudem der gesamte Verwaltungsbetrieb computerisiert sein. „Wir hatten bisher 24 Geräte, an denen aber kaum gearbeitet wurde“, sagt al-Masri. Nun habe man 40 neue Computer geordert, die gerade „komplett vernetzt“ würden. Durch die weniger korrupte und auf „fairen Wettbewerb“ ausgerichtete Planung seien, zusätzlich zum Umbau des Zoos, Gelder „für den Bau einer neuen Schule, für ein Krankenhaus und vier Straßen“ freigeworden. Hinzu kämen, erklärt al-Masri selbstbewusst, neue Wasserleitungen und „50 Sozialwohnungen“ für die Obdachlosen der Stadt. Per Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen seien außerdem „15 neue Stellen“ geschaffen worden.
Eine gute Bilanz, die den Einzug der Islamisten ins Rathaus von Kalkilia erklären könnte. Und die vor allem Einfluss auf das Wahlverhalten haben dürfte, wenn die Palästinenser Ende Januar zur Stimmabgabe für das neue Parlament aufgerufen sind. Das Thema Korruption steht im Wahlkampf ganz oben. Seit der Rückkehr der PLO aus dem Exil vor zehn Jahren sitzt die Fatah in Führungspositionen, die den Griff in die öffentliche Kasse möglich machen. Auch innerhalb der Fatah ist der Vorwurf des Parteinachwuchses an die „alte Garde“, sich persönlich bereichert zu haben, ein zentraler Konfliktpunkt.
Nidal Jaloud jedenfalls, seit zehn Jahren parteiunabhängiger Sprecher der Stadtverwaltung von Kalkilia, genießt den frischen politischen Wind. „Ohne Zweifel“ seien die städtischen Finanzen seit dem Einzug der Islamisten „deutlich transparenter“ geworden. „Warum sollten nicht 20 bis 30 Prozent der Parlamentssitze von der Hamas besetzt werden?“, fragt Jaloud mit Blick auf die Abgeordnetenhauswahl im Januar. „Zu einer funktionierenden Demokratie gehört schließlich Opposition.“ Er selbst sei nicht religiös, „aber ich mag keine Korruption“. Ohnehin wählten die meisten Leute keine Liste, sondern „Namen, von denen sie gehört haben und glauben, dass es aufrechte Politiker sind“. Dem überarbeiteten Wahlgesetz entsprechend, wird die Hälfte der Abgeordneten per Liste gewählt, die andere Hälfte direkt über die Wahlbezirke.
Wenn es tatsächlich so wäre, dass die Wähler in erster Linie die Glaubwürdigkeit ihrer Politiker überzeugt, bräuchte sich Achmad Hazza, Parlamentskandidat und früherer Stadtverordneter der Fatah, keine Sorgen zu machen. Er ist überzeugt: „Wenn heute die Wahlen noch einmal stattfänden, würde die Hamas keinen einzigen Sitz im Rathaus gewinnen“. Die Hamas verbreite Lügen. „Ich selbst“, wettert er, „habe 410.000 Euro für den Krankenhausbau aufgetrieben“ – nun brüste sich die Hamas damit. Dass Stromanschlüsse billiger geworden sind, sei richtig, räumt Hazza ein. Dafür seien aber die Betriebskosten gestiegen: „Wenn früher eine Familie 80 Euro monatlich an Strom bezahlt hat, sind es heute 100.“ Auch dass die neue Stadtverwaltung sinnvolle Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen organisiere, sei Unsinn: „Die haben 15 völlig überflüssige Stellen geschaffen.“
Auch der Zoo hat durch die Hamas zwei neue Mitarbeiter bekommen. Die beiden haben die Aufgabe, „unkeusches Verhalten zu unterbinden, von dem sich Familien gestört fühlen könnten“, erklärt Dr. Khader. In Wechselschichten versehen sie ihren Dienst: Nicht gerade unauffällig schleicht der diensthabende Aufpasser um die vier jungen Zoobesucher herum. Die haben sich inzwischen von der Giraffe Ruth verabschiedet und stehen jetzt vor dem winzigen Käfig mit den drei Löwen, die ein Tierpfleger mit einem kalten Wasserstrahl aufscheucht – Morgendusche.
Dr. Khader ist mit dieser Spende eines israelischen Zoos nicht ganz glücklich. Bei den drei Löwen handelt es sich nämlich um kastrierte Männchen, die Tiere haben deshalb keine Mähne und sehen auf den ersten Blick aus wie Weibchen. Das könne man den Zoobesuchern aber „unmöglich mitteilen“, findet der Tierarzt. Deshalb hat er am Gehege ein Schild angebracht mit der Erklärung, es handele sich hier um eine besondere afrikanische Löwenrasse, die eben keine Mähne habe.
Manual Raje kann über solche Neuerungen wie Keuschheitswächter im Zoo nur mit dem Kopf schütteln. Ketterauchend sitzt die 33-Jährige in ihrem Büro im zweiten Stock eines abrissreifen Hinterhauses, wo sie das Zentrum „Frauen der Zukunft“ leitet. Das Zentrum, das sich für Gleichberechtigung der Geschlechter einsetzt, wird mit Geldern der Friedrich-Ebert-Stiftung unterstützt. Manual gehört zu den OrganisatorInnen eines Festivals, das alljährlich im Fußballstadion von Kalkilia stattfand. Tausende Jugendliche kamen – bis in diesem Jahr die neue Stadtverwaltung eingriff. „Das Stadion ist nur für Sportveranstaltungen gedacht“, rechtfertigt Vizebürgermeister al-Masri dieses Verbot.
Zu Fatah-Zeiten konnten die „Frauen der Zukunft“ ihre Workshops für Jugendliche in kommunalen Räumen abhalten. Heute lässt die Hamas gemischtgeschlechtliche Veranstaltungen nicht mehr zu. Manual fürchtet, dass die neuen Herren nicht so schnell aufgeben werden. Erst kürzlich hat die Hamas vor Supermärkten Flyer und Videos verteilen lassen, in denen Frauen aufgefordert wurden, in der Öffentlichkeit ein Kopftuch zu tragen. „Früher oder später setzen sie solche Ziele vielleicht auch mit Gewalt durch“, fürchtet die Feministin. Al-Masri versucht, die Sache herunterzuspielen: Man habe den Frauen lediglich einen „guten Rat“ geben wollen. Ohnehin sei die Mehrheit der Menschen in Kalkilia streng religiös und lehne unislamisches Verhalten ab. „Meine Söhne haben ganze zwölf Frauen in unserer Stadt gezählt, die ohne Kopftuch gehen“, sagt er stolz.
In den Genuss der Zuwendung durch die Hamas sollen nun auch die Zootiere kommen. Die Löwen und die Affen sollen bis zum Sommer in größere und sonnigere Gehege verlegt werden. Das ist dringend nötig, die Tiere drängen sich in engen, dunklen Käfigen. An den rostigen Gittern hat sich kürzlich ein Pavian vor Aufregung drei Finger abgerissen, als in seiner Nähe geschossen wurde. Obwohl der Zoo erst 19 Jahre alt ist, wirkt er heruntergekommen. Ganze 120 Tiere sind noch da, Hühner und Ziegen inklusive. Die durch den Garten gezogenen Wassergräben sind ausgetrocknet, der Spielplatz – eine Spende von Bill und Melinda Gates – ist menschenleer.
Doch bald soll alles wieder hergerichtet sein. Dr. Khader ist optimistisch, er rechnet mit zwei Millionen Besuchern im Jahr. Für Tier und Mensch soll es netter werden, natürlich auch islamischer. Musik ist im Zoo schon jetzt nicht mehr erlaubt. „Wer unbedingt Musik hören will, kann sich ja einen Kopfhörer aufsetzen“, sagt al-Masri. Die persönliche Freiheit der Besucher werde mit dieser Regelung nicht eingeschränkt, im Gegenteil. „Niemand wird länger dazu gezwungen, laute Musik zu ertragen.“ Über die Lautsprecher im Tierpark werden nur noch islamische Verhaltensregeln und die Schlusszeiten angesagt.