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Archiv-Artikel

Die Mittwochslücke

KURZGESCHICHTE Sie wollen nach Hause, müssen aber warten. Nicht lange. Doch sofort beginnt die Suche nach einem Schuldigen

Wieso, fragte sie, so als könnte sie den Dingen eine Wendung nach ihrem Willen geben. Hatte er nicht alles so gut geplant?

VON THOMAS FEIX

Sie setzten die Rucksäcke ab, stellten sich am Wartehäuschen auf, und als die Zeit heran war, sah er auf die Uhr, und sie trat zwei Schritte vor, blickte in die Richtung, aus der der Bus kommen musste, dann in die entgegengesetzte. Lang und gerade war die Straße unterm Abendhimmel und zwischen Baumreihen und Feldern hindurch, lang, gerade und leer. Er ging zum Fahrplan am Haltestellenzeichen, sie ging ins Häuschen und setzte sich auf die Bank. Sie fragte ihn danach, wie das sein kann, und er kratzte sich am Kopf und antwortete ihr nicht. Sie sagte, dass sie rechtzeitig genug da gewesen sind, zehn Minuten Puffer mindestens.

Er stand noch immer vorm Fahrplan, er zögerte, doch dann kam er mit der Wahrheit heraus. Sie sind richtig gewesen, überpünktlich, aber der Bus, der wochentags im Stundentakt verkehrt, ließ ausgerechnet die eine Abfahrtszeit mittwochs um 20.34 Uhr aus. Er setzte sich zu ihr auf die Bank, und sie stand auf. Wieso, fragte sie, so als könnte sie den Dingen eine Wendung nach ihrem Willen geben. Hatte er nicht angeblich alles so gut geplant? Typisch. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und ging zum Fahrplan hinaus. Sie wollte nach Hause, sofort. Nein, sagte er, wie er da auf der Bank saß und ebenso die Arme vor der Brust verschränkte. Wir beide haben es geplant. Einer war schuld, und der eine war ganz sicher nicht sie, sie wollte es ihm beweisen. Aber als sie auf den Fahrplan blickte und prüfte und verglich, musste sie zugeben, dass sie am Tag zuvor über den Stundentakt gesprochen hatten und dass sie genauso wenig wie er auf die Lücke mittwochs um 20.34 Uhr geachtet hatte. Sie würde einlenken müssen.

21.34 Uhr war die nächste Abfahrtszeit, die letzte des Tages. Siehst du, rief er ihr aus dem Innern des Wartehäuschens zu, habe ich es dir nicht gesagt, die eine Stunde. Sie ließen die Arme sinken, ein Paar Mitte dreißig, ein Ehepaar vielleicht.

Kräftig sie, von kleinem Wuchs und Kurzhaarschnitt. Er war viel größer als sie und schlank, mit ruhigem, versöhnlichem Ausdruck im Gesicht. Beide hatten sie Jeans an und rote ungefütterte Wetterjacken. Er erhob sich von der Bank, trat aus dem Häuschen, Vera, komm, und nahm sie in den Arm. Ach, Dirk, sie lehnte sich mit dem Rücken an seine Brust.

Inmitten eines orangefarbenen Streifens versank die Sonne am Horizont. Vera und Tim waren nun glücklich über das Ausbleiben des Busses und darüber, dass sie, als Stadtmenschen, ihren Ausflug mit einem Sonnenuntergang auf dem Land beendeten.

Auf sandigen Wegen sind sie den Tag über unterwegs gewesen, einen langen Tag in ebenem Gelände, und auf der Wolldecke im hohen Gras hatten sie einander Dinge gesagt wie seit ihren allerersten Tagen nicht mehr. Jetzt schwiegen sie, und manchmal war es, als fielen ihnen die Augen zu.

Dann war die Sonne untergegangen, und der Himmel war fast schwarz. Vera zog die Schultern hoch, ihr wurde kalt. Ein Auto fuhr in Richtung Stadt vorüber, ein anderes den Lichtern des Dorfes entgegen, das jenseits der Kartoffeläcker lag. Eben wollte Dirk los, wollte die Straße überqueren, und Vera rief schon, wo willst du hin, und er zeigte auf den Strauch drüben, hinter den er dringend musste, als sie beide Stimmen hörten, die näher kamen, eine und noch eine, und er verschwand schnell hinterm Strauch und kam noch schneller wieder dahinter hervor.

Eine Frau und ein Mann bewegten sich auf die Haltestelle zu, und noch in der Entfernung war zu hören, dass sie miteinander stritten. Eine Taschenlampe leuchtete den Asphalt vor ihnen aus, und die Frau hatte gerade etwas gesagt. Nun halt aber mal die Luft an, Katrin, ertönte die Männerstimme in der Dunkelheit, und der Lampenstrahl wackelte. Es fährt doch noch einer. Der Mann war beinahe an der Haltestelle angekommen, die Frau war drei Schritte hinter ihm. Einer kommt also noch?, fragte sie ihn, weißt du es genau, oder weißt du es nur wieder besser? Ja doch, sagte er, einer kommt noch, kurz nach halb zehn. Die Stimmen wurden Umriss, dann Gestalt, ein beleibter Mann, eine hagere Frau, beide leicht angezogen. Baumwollhose und Hemd er, Leinenrock, Bluse und Strickjacke sie, und anders als Vera und Dirk waren sie Enddreißiger. Jetzt standen die Paare einander gegenüber, und der Streit zwischen Katrin und dem Beleibten hörte augenblicklich auf. Der Mann machte die Lampe aus. Die Lampe, Tim, hatte Katrin zu ihm gesagt, du blendest die Leute damit. N’ Abend, grüßten sie und er, N’ Abend, grüßten Vera und Dirk zurück.

„Warten Sie vielleicht auch auf den Bus“, stellte Tim die Frage, die alles für ihn entschied. „Leider“, sagte Dirk, „wir wollten längst weg sein, wollten den Halbneuner“, und er erklärte ihm die Mittwochslücke.

„Mittwochs, so“, sagte Katrin und sah Tim von der Seite her eine Sekunde lang von oben bis unten an. Dann wandte sie sich wieder Vera und Dirk zu: „Weshalb?“

„Würde uns selbst interessieren“, sagte Vera und sah zu Dirk hoch, der neben ihr stand, „es ist einfach so.“ Sie zuckte die Achseln. „Oder ist es vielleicht eine höhere Macht?“

Da lachten sie alle vier, und Tim lachte besonders laut, er hatte viel zu verlieren, seinen Ruf als jemand, der immer alles weiß.

„Höhere Macht“, sagte er, „das ist gut“, und mit Besserwissermiene forschte er in Katrins Gesicht. „Dann haben wir den Bus um halb neun gar nicht verpasst, er wäre ohnehin nicht gekommen?“, fragte sie Dirk und sagte zu Tim: „Da hast du es, aber du weißt immer alles besser. Wir hätten uns Zeit lassen können. Typisch.“

„Zeit“, sagte Tim, „wieso. Die hast du dir doch sowieso schon ausreichend genommen.“ Phhh, machte Katrin.

„Um ein Haar hätte nichts geklappt“, sagte Tim zu Dirk, „ihretwegen“, und zeigte auf Katrin. Der Streit zwischen ihnen wollte wieder aufflammen. Vera und Dirk sahen und fühlten die Notwendigkeit zu schlichten.

„Zehn vor halb neun waren wir hier“, sagte Dirk, er hatte den ruhigen und versöhnlichen Ton in der Stimme, der seiner Art entsprach, „überpünktlich, und dann standen wir da, und wir beide hatten gedacht, wir hätten alles so gut geplant. Vera, nicht wahr?“

Vera nickte und legte die Hand auf seinen Arm. „Egal“, sagte sie und ließ Katrin und Tim dabei nicht aus den Augen, „wir hatten einen schönen Tag, wandern und dann der Sonnenuntergang, wir sind zufrieden damit. Waren Sie auch wandern?“ Sie schmiegte sich an Dirk, der umfasste ihre Hüfte, küsste ihr das Kurzhaar, das nach oben stand.

„Wir hatten ebenfalls einen schönen Tag“, sagte Katrin, sie spürte Veras und Dirks Absicht. „Tims Eltern haben da ein Häuschen.“ Sie drehte sich halb um und zeigte auf das Dorf jenseits der Kartoffeläcker, „und wir sind heute an unserem freien Tag dorthin, um nachzusehen, wie es den Winter überstanden hat.“ Sie sah Tim an, er übernahm.

„Wir haben das mit einer Wanderung verbunden“, sagte er, „war schön, aber auf einmal sind wir einen falschen Weg rein, jedenfalls führte er nicht hierher, und ich wusste ihn auch nicht mehr, obwohl ich immer Bescheid weiß. Deshalb war sie so aufgeregt, weil sie dachte, es käme kein Bus mehr.“

Er fing dann schnell deswegen vom Wetter an, weil er sah, dass Katrin wieder das Verächtliche in den Augen hatte, und Vera und Dirk redeten mit, aber weiter als bis zur Luft und den Wolken kamen sie nicht. Katrin redete jetzt, sie machte sich Sorgen. „Norman“, sagte sie zu Tim, „er ist allein zu Hause, ich mache mir seinetwegen Sorgen, er soll nicht so viel fernsehen.“

„Er ist fast dreizehn“, sagte Tim, „fast ein Mann, er kann allein essen, er kann allein ins Bett, also kann er auch fernsehen.“ Katrin winkte ab, aber später würde sie mit ihm darüber reden, das war klar.

In dem Moment tauchte in der Richtung, aus der der Bus kommen musste, ein Scheinwerferpaar auf. Zwei nach halb zehn war es. „Das ist er“, sagte Vera und ging wieder an den Straßenrand. Dirk nahm die Rucksäcke auf, und Katrin und Tim traten hinter Vera und beobachteten wie sie die beiden Lichter. Es war der Bus, überpünktlich, die vier atmeten auf, als er vor ihnen hielt. Zusammen gingen sie nach hinten zur Rückbank durch. Es war nicht weit bis zur Stadt, nicht mehr als eine halbe Stunde.