: berliner szenen Heiligs Märktle (4)
Weihnachtstief in Moabit
Sie stehen vor dem Rathaus in Moabit. Eine Hand voll Buden, meistens regnet es. Selbst dann, wenn es nicht regnet, herrscht hier eine verregnete Stimmung. Eine Würstchenbude, einmal Kartoffelpuffer und Süßkram, ein Kinderkarussell und alles, was man noch so nicht braucht. Der einsamste Weihnachtsmarkt der Welt. Ganze Stunden kann man gegenüber auf der anderen Seite der Turmstraße stehen, auf den Bus warten und schauen, was passiert. Nichts passiert.
Der Mann vom Kinderkarussell schaut mürrisch aus seinem Glaskasten, ein anderer Budenbesitzer kratzt sich. Eine ältere Dame wendet Würstchen, wieder und wieder. Wäre dieser Weihnachtsmarkt ein Weihnachtsmarkt in, sagen wir mal, Mexiko, würde ein Filmer, der ihn abfilmt, immerhin Fliegen zeigen können: als Zeichen dafür, dass nichts passiert. Doch in Moabit fehlen sogar die Fliegen.
„Hey, Vatta“, ruft die Frau aus der Wurstbude einem Paar zu, „Vatta, kauf deiner Frau ’ne Wurst, sei nicht so geizig!“ Das Paar flieht. Ein junger HipHopper schlurft vorbei. „Nur nicht so schüchtern“, ruft die Frau, „immer ran an die Buletten!“ Der Gangstarap-Freund zuckt zusammen, derart markige Sprüche kennt er nicht in seiner Hood. Andere verweilen kurz, auf ein Schnäpschen oder fünf, stellen sich mit roten Nasen an die Glühweinbude. Doch selbst sie, die Wind und Wetter trotzen für etwas Alkohol, lassen sich nicht lang halten. Bald schlingen sie die Arme um ihre Bäuche und rubbeln sich die Oberarme, weil es generell und hier besonders kalt ist. Dann ziehen sie in die Kneipen drei Straßen weiter. Der Mann schaut weiterhin mürrisch auf sein knallbuntes Kinderkarussell. Karel Gott singt von der schönsten Zeit des Jahres. Die Fliegen fehlen. JÖRG SUNDERMEIER