: Affenhitze an Weihnachten
Tränen der Rührung unter der Plastiktanne – bei 36 Grad im Schatten. Ein Heiligabend im deutschen Altersheim von Rio de Janeiro
Grüne Bananenblätter klopfen an die Fenster des Weihnachtszimmers. Im Speisesaal zündet eine Nonne die Christbaumkerzen an. Plötzlich kracht es. „Raketen!“ Die Alten im Saal zucken zusammen. „Schon wieder diese blöde Knallerei“, mault Johann-Heinrich Lange, ein freundlicher Herr von weit über neunzig Jahren. Aber so ist das in Rio de Janeiro. Heiligabend jagen die Brasilianer johlend Silvesterböller in die Luft. Eine Woche zu früh – eine Weihnachtskinderei, die die achtzig Senioren im deutschen Altenheim von Rio de Janeiro nur mit einem Kopfschütteln quittieren – auch nach siebzig oder neunzig Jahren in Südamerika. Denn mit Christi Geburt beginnt in den Tropen bereits so etwas wie Karneval.
Am Nebentisch sitzt Helga Rüdiger, 73, vor einem Adventskranz mit roten Schleifen. Sie kräuselt pikiert ihre Nase. Ganz Dame, hat sich die graugelockte Frau die Augenbrauen nachgezogen und die Perlenketten und die Goldohrringe aus ihrer Schmuckschatulle angelegt. „Mir fehlt hier das Besinnliche und die heilige Weihnachtsstille“, sagt sie und spielt geistesabwesend mit zwei Fingern an einer Kerze. Frau Rüdiger vermisst Winterzauber und „innere Einkehr“ – denn Frau Rüdigers Herz ist deutsch. Wie das all der anderen Bewohner des „Retiro Humboldt“ – der Seniorenresidenz Humboldt in Rios Vorort Jacarépagua. Helga Rüdigers Eltern wanderten in den Vierzigerjahren aus Deutschland nach Brasilien aus, um – wie so viele – in Übersee ihr Glück zu suchen. Einwander aus Deutschland, Österreich und der Schweiz prägen seit über 180 Jahren auch die brasilianische Kultur. Fünf Millionen Deutschstämmige sollen es heute in Brasilien sein.
Das Thermometer an der Hauswand zeigt 36 Grad. „Puh … Eine Affenhitze!“, stöhnen die Alten. Viel zu warm für einen Heiligabend, selbst in Rio. Als Reminiszenz an Eisblumen und klirrenden Frost in der alten Heimat spielt der Kassettenrekorder „Leise rieselt der Schnee“. Ein skurriler Kontrast. Doch keinen scheint das zu stören. Verträumt blicken die Alten auf die Holztannenbäume auf den Tischen: Laubsägearbeiten der Kinder der deutschen Schule von Rio de Janeiro. Blautannen oder Fichten wachsen in Brasilien nicht. Dafür steht eine echter japanischer Nadelbaum vorne im Saal – mit Zapfen, Strohsternen und Kugeln aus Styropor geschmückt.
Endlich hat Günter Huse, der Heimleiter, die vier starken Deckenventilatoren anwerfen lassen. Nur leider blasen sie ständig die Lichter vom Adventskranz aus. „Etwas Zugluft in der Weihnachtsstube ist mir allemal mehr Wert als die heimelige Stimmung“, sagt der 63-Jährige. Die Windmaschinen übertönen allerdings auch seine eigene Ansprache über ein friedliches Miteinander in den Hausgemeinschaften: „Wir sind wie eine Familie. Ihr seid meine Familie…“, predigt er über das Dröhnen der Apparate hinweg. „Das sagt er uns, weil wir so viel streiten“, flüstert eine Dame hinten im Raum.
Bei seiner Rede wischt sich Huse Schweißbäche von Gesicht und Hals. Später gibt er zu: „Früher habe ich aus der Weihnachtsgeschichte vorgelesen. Inzwischen ist es mir lieber, wenn keine zu große Rührung aufkommt. Ich will hier kein Schluchzen mehr hören.“ Als aber die Melodie von „Alle Jahre wieder“ einsetzt, werden Frau Rüdigers Augen plötzlich feucht: „Mein Lieblingslied“, entschuldigt sie sich blinzelnd. „Meine Kinder können den Text schon nicht mehr.“ Ihr fehlen ihre Kinder, die wieder mal ohne sie Weihnachten feiern: „Aber ich habe auch Sehnsucht nach meiner toten Mutter und nach meinem verstorbenen Vater. Ganz ehrlich, ich vermisse sogar meine Großeltern“, sagt sie mit weicher Stimme.
Zeit für den Festschmaus: Es gibt gebratene Hühnerteile, salziges, brasilianisches Mürbegebäck und Rote-Bete-Salat. Zum Nachtisch servieren die farbigen Küchenfrauen „Arme Ritter“ mit Zucker und Zimt. Und ausnahmsweise gibt es Bier. Dabei hätten die meisten an diesem Abend Lust auf eine knusprige Ente mit Blaukraut, Würstchen mit Kartoffelsalat, Vanillekipferl aus gemahlenen Mandeln, Christstollen oder eine Schale Apfelkompott.
Beim Kauen und Plaudern werden Erinnerungen wach: An Weihnachten als Sechsjährige, an Kachelofen und Schaukelstuhl. „Zu Hause war es am schönsten“, findet Frida Aring, 94, aus dem „Haus Berlin“, deren Name in altdeutscher Frakturschrift an der Zimmertür prangt. Ihr Vater war bei Stuttgart einst ein Kupfer- und Kesselschmied. Doch die Zeiten waren hart in Deutschland. Mit ihren Eltern und acht Brüdern fand sich die Dreizehnjährige mit den eisblauen Augen 1924 im brasilianischen Süden wieder. „Das war damals das zweite Deutschland hier im Urwald. Wo wir hinkamen, sprachen sie alle Deutsch.“ Die Mutter versuchte einen „schönen Gemüsegarten“ anzulegen. „Doch die Blattschneiderameisen, die Biester, haben alles abgebissen“, erinnert sich Frau Aring. Der Vater rodete Land und kaufte Schweine. Doch er versoff sogar noch den Lohn, den seine Tochter als Haushaltshilfe bei einer deutschen Pastorenfamilie bekam.
Das Ergebnis: Von Heimweh verzehrt, wollte Frida Aring mit sechzehn nach Deutschland zurück. Sie kam aber nur bis Rio de Janeiro, wo sie einen Fabrikarbeiter heiratete: „Claro“, sagt sie. „Auch ein Reichsdeutscher.“ Doch ihre Sehnsucht blieb: „Ich will gern noch einmal mein Heimatland sehen – was bin ich früher als Mädchen Schlittschuh gelaufen… Ich habe wirklich, wirklich Heimweh nach drüben.“
Weiß überpuderte Wälder, zerklüftete Gebirge, deutsche Gemütlichkeit und deutscher Tiefgang fehlen auch Grete Lange, 95. Im eisigen Dom zu Halberstadt in Sachsen-Anhalt besuchte sie als kleines Mädchen die Christmette. Danach tranken sie im Familienkreis Bowle und lasen Weihnachtsgeschichten. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg zog die Kaufmannsfamilie nach Südamerika: „Damals trug ich Zöpfe mit Schleifen“, erzählt sie. „Manchmal habe ich immer noch Tränen, so groß ist meine Sehnsucht nach zu Hause. Früher habe ich mir gesagt: ‚Füg dich, benimm dich, du bist in Brasilien.‘ Doch die Disziplin lässt im Alter nach.“
Grete Langes Schicksal und ihre Sehnsucht sind typisch für die meisten Deutschen im Seniorenheim. Fast jeder will noch einmal zurück nach Deutschland. Doch kaum einer kann diesen Traum realisieren. Die meisten alten Deutschen in Rio de Janeiro kennen an ihrem Geburtsort keinen mehr. Sie fühlen sich zu schwach für die lange Reise. Und das Flugticket ist viel zu teuer. Ein Platz in einem Altenheim „drüben“ gleich sowieso. Für einen Urlaub in Hamburg mit ihrem Mann Johann-Heinrich, der in den Zwanzigerjahren als Schiffsmechaniker aus Altona kam, hatten die Langes nur einmal in ihrem Leben Geld. Dennoch feierte die Familie mit ihrer Tochter, die Stewardess wurde, Weihnachten im Haus bei Rio immer wie früher: „Gebacken haben die Frauen wie die Weltmeister. Was eine Deutsche ist, macht alles, wie’s in Deutschland war.“
Nach dem Nachtisch spielt Grete Lange mit einem blauen Papierengel, der auf dem Weihnachtsteller liegt. Ihr Mann, der sie liebevoll „Frauchen“ nennt, lässt Tabletten aus einem braunen Glas auf die Tischdecke purzeln. Beide denken an diesem 24. Dezember an jene, die sie lieben und die nicht mehr ist. „Plötzlich vermisst man seine Geschwister und die Schulfreunde“, sagt Frau Lange. „Je älter man wird, desto mehr steigt die Kindheit auf.“
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs fanden auch deutsche Nazis und Kriegsverbrecher in Brasilien Zuflucht. Joseph Mengele, der Arzt von Auschwitz, ertrank an einem brasilianischen Strand. Die Altnazis in Südamerika stützen die rechtskonservative Zeitung Brasil-Post, die Kontakt zur rechtsradikalen National-Zeitung aus München pflegt. Doch im „Retiro Humboldt“ sind keine Nazi-Vergangenheiten auszumachen. Die über 90-Jährigen wanderten schon als Kinder aus – und sind am ehesten noch wilhelminisch geprägt.
Fast alle von ihnen lebten in Brasilien, als Hitler in Europa Krieg führte. 1942 trat Brasilien auf alliierter Seite in den Zweiten Weltkrieg ein – mit gravierenden Folgen für die deutsche Minderheit in Brasilien. Die brasilianische Regierung schloss alle deutschen Schulen, Tanz- und Schützenvereine. Wer auf der Straße Deutsch sprach, wurde verhaftet. „Weil ich blond und blauäugig war, war ich schon verdächtig“, erinnert sich Johann-Heinrich Lange. Wegen seiner hellen Augen und der hellen Haare landete er einen Tag in einem brasilianischen Gefängnis. In seinen Weltherrschaftsplänen hatte Hitler die Deutsch-Brasilianer fest im Visier. Geführt von der Auslandsorganisation der NSDAP sollten die deutschen „Kolonisten“ in Brasilien bei der Eroberung Südamerikas die entscheidende Rolle spielen.
Wenn in Rio de Janeiro heutzutage ein Deutscher stirbt, packen seine Erben dessen Bibliothek ins Auto und bringen sie dem „Retiro Humboldt“. Die Einwanderer aus dem Land der Dichter und Denker werden von den Brasilianern für ihre Affinität zum geschriebenen Wort regelrecht verehrt. Vor dem Pavillon „Haus Dresden“ stapeln sich die unausgepackten Kartons. Darin: Werke der deutschen Romantik, dicke Enzyklopädien, Konsalik-Schmöker und „Die Tiere des deutschen Waldes“.
Überraschend kommt Wind über den Dächern des Weihnachtszimmers auf. Am Himmel grollt es. Bald prasselt ein echter Tropenregen auf die kleine deutsche Enklave in Rio de Janeiro hernieder. Im Park um die Mangobäume und Bananenstauden bilden sich knietiefe Wasserlachen.
EVA-MARIA VON STEINBURG