: Der radikale Republikaner
KUNST UND POLITIK Revolutionärer Karikaturist und unbestechlicher Beobachter, Avantgardist der Moderne und Vorläufer des zeitgenössischen Kreativ-Prekariats: Eine hervorragende Ausstellung würdigt Honoré Daumier
VON INGO AREND
Ein nur in Umrissen erkennbarer Mann in Ocker, der Kopf ist verwischt. Er hängt an einem Seil vor einer weißen Wand und rudert mit den Beinen. Rechts daneben deutet ein leuchtend blaues Rechteck den Himmel an. Vor Honoré Daumiers Arbeit „Der Mann am Seil“ aus dem Jahr 1864 steht man noch heute sprachlos ob seiner Modernität. Denn das Werk aus der Mitte des 19. Jahrhundert erinnert mehr an die Farbfeldmalerei des 20. Jahrhunderts als an einen gut abgehangenen „Alten Meister“.
Das Bild ist, wie viele Werke des 1808 in Marseille geborenen Malers, nicht genau zu datieren. Lässt sich jedoch unschwer als Allegorie auf die existenzielle Gefährdung des Menschen deuten. Doch wenn der prekäre Schwebezustand auf einen konkreten Menschen zutrifft, dann auf den Künstler selbst. Mit seiner „unvollendeten“ Malerei war Daumier nicht nur ein Vorläufer der Moderne. So, wie er zeitlebens selbst materiell zwischen Himmel und Erde „schwebte“, war er auch ein Vorläufer des modernen Kreativ-Prekariats.
Das hat etwas mit dem radikalen Republikanismus des Künstlers zu tun, der im Alter von dreiundzwanzig Jahren wegen Majestätsbeleidigung für sechs Monate ins Gefängnis wanderte. 1831 hatte der Teilnehmer der Julirevolution von 1830 den Bürgerkönig Louis-Philippe in der Zeichnung Gargantua als gefräßiges Ungeheuer karikiert: Der royale Krisengewinnler verdaut die Steuern, die ihm mit einer Maulrampe in den Schlund geschoben werden, zu Gunsten der Schützlinge und Minister unter seinem Stuhl. Bis heute ist das Werk eine Inkunabel der politischen Grafik von zeitloser Metaphorik.
Bis zu seinem Tod nahm Daumier mit nie nachlassender satirischer Schärfe das „juste milieu“ seiner Zeit aufs Korn. Claude Keisch, der ehemalige Kustos der Alten Nationalgalerie, hat dem Künstler und Bildhauer jetzt im Berliner Liebermann-Haus, dem Sitz der Stiftung Brandenburger Tor, eine ausgezeichnete Ausstellung ausgerichtet. In ihr sind auch einige der rund 40 berühmten Terrakotten zu sehen, mit denen Daumier das politische Personal seiner Zeit verspottete.
Wer sich dieses „Narrenhaus der Julimonarchie“, die Phalanx der Hasardeure, Spekulanten und Mitläufer mit ihrer intriganten Verlogenheit und dem falschen Pathos anschaut, fühlt sich instinktiv an das Personal einer anderen, nicht weniger revolutionären Umbruchszeit erinnert: das, mit dessen Hilfe sich die von den Finanzmärkten geschüttelte Welt des 21. Jahrhunderts dem Zustand der Postdemokratie annähert.
Claude Keisch hat den Ort für diese Ausstellung mit Bedacht gewählt. Max Liebermann, der Wortführer der deutschen Impressionisten und Präsident der Berliner Akademie der Künste, machte aus seiner Bewunderung für Daumier nie einen Hehl. „Daumier ist ungeheuer“ – das Motto der Ausstellung stammt von dem Künstler, der an diesem Ort wohnte. Der liberale Großbürger aus Deutschland hielt den Revolutionskünstler aus Frankreich für „den größten Künstler des 19. Jahrhunderts“.
In seinem Palais neben dem Brandenburger Tor beherbergteLiebermann zu Lebzeiten eine Sammlung von 3.000 Daumier-Lithografien, 22 Handzeichnungen und einem wichtigen Ölbild. Zu seinem „Selbstbildnis an der Staffelei“ von 1902 ließ Liebermann sich von einem ähnlichen Bild seines Vorbilds inspirieren. „Daumier hat alles gekonnt, was er gewollt hat“, befand Liebermann: „Er ist das große Genie.“
Keisch reduziert diesen außergewöhnlichen Menschen und Künstler zum Glück nicht auf den begnadeten Karikaturisten der Tageszeitung Charivari, als der er berühmt wurde. Sondern zeigt den „Totalkünstler“ zwischen Romantik und Realismus, den nicht nur Max Liebermann, sondern auch seine Landsleute Gustave Courbet oder Charles Baudelaire bewunderten.
Seine Fähigkeit, im Speziellen das Allgemeine auszudrücken, zeigt das Bild „Ecce Homo“. Der gefangene Christus darauf, den Pontius Pilatus dem Mob präsentiert, hat etwas von der robusten Vitalität und den groben Konturen von Daumiers Karikaturen. Zugleich ist er ein existenzielles Symbol. Und er steht dort als Sinnbild der verratenen Republik. Als der Direktor des Frankfurter Städel, Georg Swarzenski, dem Hagener Mäzen und Gründer des Museums Folkwang, Karl Ernst Osthaus, eine Fotografie des Bildes zeigte, erwarb dieser das Werk auf der Stelle für seine Sammlung.
Die Ausstellung ist eine Großtat, weil Daumier zum ersten Mal seit 1926 wieder in einer großen Schau in Berlin gezeigt wird. Sie ist nämlich viel mehr als nur noch ein historischer Blockbuster. In bestürzender Eindringlichkeit macht sie bewusst, was es heißt, wenn ein Künstler wirklich unter Einsatz seiner ganzen Existenz das verwirklicht, was heute zu einem wohlfeilen und gut alimentierten Vernissagen-Motto mutiert ist: „Eine Kunst, die sich einmischt.“
Als ihm der Charivari 1860 wegen seiner politischen Ästhetik kündigt, steht Daumier drei Jahre mittellos auf der Straße. Zu kompromittieren war er dennoch nie. Den Orden der Ehrenlegion lehnte das zeitweilige Mitglied der Künstlerkommission der Pariser Kommune ab. 1879 starb er verarmt in dem nordwestfranzösischen Dorf Valmondois. Der Erlös der ersten und einzigen Ausstellung seiner Bilder, die Freunde ein Jahr vor seinem Tod für ihn organisiert hatten, deckte nicht einmal die Unkosten.
■ Bis 2. Juni. Stiftung Brandenburger Tor im Max-Liebermann-Haus. Ein Katalog ist im Verlag Nicolai erschienen und kostet 28 Euro