: Die stählerne Bestie lauert schon
AUS PIERCHRISTIANE MARTIN
Matthias Hahn fährt vorsichtig. Das Wetter ist schlecht und die Straße, auf der sein Auto langsam vorwärts kriecht, unbefestigt, eher ein Art Feldweg. Links und rechts liegt unbebautes Land. Im Nebel zeigen sich Lkw, Forstmaschinen und große Haufen geheckselten Holzes. „Das waren alles mal Bäume“, sagt Hahn. „Und da vorne, da stand das Haus vom Arzt. Ich kannte hier jeden Stein.“ Der kräftig gebaute Mittvierziger gestikuliert, weist nach links und rechts in das nebelige Nichts, versucht die Vergangenheit seines Nachbardorfes heraufzubeschwören. Es bleibt schwer vorstellbar, dass in dieser Einöde einstmals Häuser standen, Menschen lebten.
Dann taucht am Horizont das stählerne Ungetüm auf, dem das alles zum Opfer fiel: der Braunkohlebagger, ein Wunder der Technik, beeindruckend und bedrohlich zugleich. Jedes Jahr fördert er hier im Tagebau Inden II zwischen Köln und Aachen 20 bis 25 Millionen Tonnen Braunkohle für den Energiekonzern RWE Power. Verfeuert werden die im Kraftwerk Weisweiler, direkt daneben. Fast 20 Milliarden Kilowattstunden Strom liefert das Werk mit den dampfenden Schloten Jahr für Jahr. Weichen mussten dafür bis jetzt zwei Ortschaften der Gemeinde Inden: Altdorf und Inden selbst.
Die dritte Ortschaft auf Indener Gebiet, die verschwinden wird, ist Pier, das Heimatdorf von Matthias Hahn und 1.500 anderen Menschen. Pier ist alt. Über tausend Jahre gibt es den Ort schon. Eine Gedenktafel erinnert daran, dass Pier Mariengemeinde ist. „Dorf unter dem Mantel der Mutter“, steht dort. Doch auch dieser heilige Schutz hat nicht ausgereicht. Der Bagger lauert vor der Tür. Die Umsiedlung hat begonnen. „Jetzt wollen alle nur noch schnell weg hier“, sagt Hahn und scheint dabei seltsam unberührt.
Zwist im Dorf
Doch bei der Frage, ob das nicht eine traurige Seite habe, blickt er erstaunt auf. „Natürlich!“, antwortet Hahn. Um dann schnell wieder dem alten Optimismus Platz zu machen. Für die Menschen sei es in den neuen Häusern schön. Und man dürfe sich nicht den Gefühlen hingeben. „Die Emotionen stehen im Weg, nur der Verstand hilft weiter“, sagt er und zieht die Schultern hoch. Er selbst sei mit dem Tagebau groß geworden. Man habe gewusst, was auf einen zukommt. Auf der Kommunion seines Vetters 1970 habe er als Kind das erste Mal gehört, wie die Erwachsenen von Umsiedlung sprachen. „Das fand ich aber eher spannend als bedrohlich“, sagt der Transportunternehmer.
Heute zeigt er sich pragmatisch. Alles habe sein Für und Wider. Natürlich tue es ihm als Hobby-Organisten um die Orgel in der Pierer Kirche leid: „Wer weiß, was aus der wird?“, fragt er sich. Andererseits sei er froh, wenn er sonntags nicht mehr so früh aufstehen muss, um im Gottesdienst die Orgel zu spielen. Und wenn er andere jammern hört: „Wir verlieren unsere Kirche“, kann er sich nur wundern. „Es geht doch eh kaum mehr einer hin.“ Zeitgeist nennt er das.
Dem lastet er auch an, dass seine Dorfgemeinschaft nach der Umsiedlung nicht mehr existieren wird. Nicht einmal 50 Prozent der Pierer konnten sich auf einen gemeinsamen Standort einigen. Dass Pier nun zerbricht, wie viele der Einheimischen bedauernd sagen, dass die einen nach Jüngersdorf gehen, die anderen nach Schophoven und dass es darüber Jahre lang Zwist im Dorf gab, hat aber letztlich viele Ursachen. Historische, politische, finanzielle und ganz persönliche. Da wird viel gemunkelt, die Gerüchteküche kocht.
Hinter vorgehaltener Hand heißt es: „Denen, die nach Jüngersdorf gehen, ging es nur ums Geld, denn dort sind die Grundstücke mehr wert.“ Oder: „Die, die nach Schophoven ziehen, sind einfach nur stur. Die haben sich noch nicht mal den neuen Standort in Jüngersdorf angeschaut.“ Da geht es auch um Hanglagen, die dem einen gefallen und dem anderen nicht, um die Nähe zum Tagebau, die die einen billigen und die anderen ablehnen oder darum, wo die direkten Nachbarn hingehen, seien sie verhasst oder geliebt.
Die zerrissene Umsiedlung von Pier ist auf lokaler Ebene ein kleines Politikum. Denn ein Teil der Bevölkerung verlässt die angestammte Gemeinde Inden und wechselt in die Nachbargemeinde Langerwehe, auf deren Gebiet der Umsiedlungsstandort Jüngersdorf liegt. „Wir freuen uns über den Zuzug“, sagt Martina Mielke vom Bauamt Langerwehe. Aber finanziell habe ihre Gemeinde nichts davon, betont sie. Das sehen die Indener anders. „Von der Bevölkerungszahl hängen die Schlüsselzuweisungen des Landes ab. Das ist bares Geld, das uns verloren geht und das die Langerweher dazugewinnen“, sagt Regina Dechering vom Indener Bauamt. Beide Seiten beteuern aber, dass es keinerlei Konkurrenzkampf zwischen den Gemeinden gäbe. Und auch darüber, wer wie viel von der Entschädigungssumme bekommt, die RWE für die Pierer Infrastruktur zahlt, würde man sich einig werden. Juristisch sei die Sachlage klar, bestätigen Mielke und Dechering. Inden gehöre die Infrastruktur und somit auch das Geld. Moralisch sehe es etwas anders aus, schließlich müsse Langerwehe ja für einen Teil der Pierer Bürger neue Infrastruktur schaffen. Eine abschließende Entscheidung dazu gibt es noch nicht. Der Ortsname Pier jedenfalls verlässt die Gemeinde Inden. Neu-Pier liegt in Jüngersdorf und damit auf Langerweher Gebiet. Neue Ortseingangsschilder stehen bereits: Pier, Gemeinde Langerwehe. In den Pierer Straßen und am Stammtisch der Dorfkneipe hört man darüber schon mal so etwas wie: „Das geschieht Inden recht. Die haben sich eh nie um uns Pierer gekümmert. Jetzt gehen wir halt nach Langerwehe.“
Alte Geschichten werden da ausgegraben von einer Umgehungsstraße, die die Pierer gern haben wollten, die der Indener Gemeinderat aber verwehrte. Aus der damaligen Bürgerinitiative und dem Groll auf Inden heraus sei eine Bewegung entstanden, die sich für den Umsiedlungsstandort in Langerwehe stark machte. „Das war ein richtiger Dorfstreit“, erinnert sich Matthias Hahn. „Das hat Familien und Freunde gespalten.“ Zuerst hätten die meisten Einwohner nach Langerwehe gewollt. Dann hätten sich aber viele Vereine für ein Verbleiben in Inden ausgesprochen. Das habe viele wieder umgestimmt. Heute sei das alles schon fast vergessen. Es herrsche wieder Frieden im Ort.
Langsames Sterben
Frieden in einem Ort, den es nicht mehr lange geben wird. Die ersten Sperrmüllcontainer stehen vor den verklinkerten Häusern in Pier. Die ersten Familien haben angefangen zu bauen – da oder dort. Noch spürt man nur wenig vom langsamen Sterben des Dorfes „unter dem Mantel der Mutter“. Aber schon sehr bald wird sich das ändern. Vom verlassenen Geisterdorf wird es zur Brachfläche werden, auf der der Braunkohlebagger sein Werk verrichtet. Und Maria schaut schweigend zu.