Ein Land sieht rund

Werbebombardements und rollende Löffelbiskuits, Knopfaugenterror und Parasitenmarketing, Tourismuseuphorie und Boomprognosen: Knapp ein halbes Jahr vor der Fußball-Weltmeisterschaft nimmt der Overkill in Deutschland allmählich zu

VON BERND MÜLLENDER

Schwein hätte nahe gelegen. Aber Schweini, Rufname des deutschen Nationalspielers Bastian Schweinsteiger, wirbt jetzt lustigerweise für Geflügelfleisch. Michael Ballack posiert derweil fachkundig für eine Fernsehfirma und telefoniert sich die Ohren wund für einen Mobilfunker. Fußball überall: Dekorationen in den Schaufenstern gehen kaum noch ohne WM-Symbolik. Durch Radio und TV donnern Jingle-Gewitter zu kommenden Übertragungsmarathons. Eintrittskarten-Lotterien begleiten die Kauf-mich-Botschaften. Für die Wettfirma Oddset brüllt Werner Hansch. Ein Elektronikmarkt schmettert seit Monaten schon im Chor: „Wir holen den Titel.“

Ein Land wird rund: „Jedes Unternehmen“, sagt Markus Bockelkamp von der Marketingfirma b+d Sports, „wird 2006 den Fußball in der Werbung zu besetzen versuchen.“ Bockelkamps Firma hat mit der Postbank zuletzt ganze Stadien mit gelben Bällen werbewirksam gefüllt. Lufthansa-Airbusse haben die Schnauze in eine Ball-Silhouette verwandelt, der Berliner Fernsehturm bohrt sich ab Januar nahe der Spitze durch eine schwarz-weiße Kugel aus 3.000 Quadratmeter Folie. Ob die Reichstagskuppel wohl noch folgt, fragen Spötter schon, oder die Kuppeln großer Kirchen? Infokräfte des WM-Sponsors Deutsche Bahn sitzen tatsächlich schon in Fußball-Schaltern, um Verspätungen kleinlaut zu verlautbaren.

Flucht in den Urlaub

In den Wartezeiten werden wir uns auch von Fußball ernähren, etwa mit dem „Championburger“ im Balldesign. Ein Konditor hat vom Weltfußballverband Fifa die Lizenz für die offizielle WM-Torte ersteigert, Gummibärchen in Ballform sind angekündigt. Folgen werden WM-Würste, Fußball-BHs, Weltmeister-Brötchen, Deutschland-Tattoos und bestimmt auch, zu WM-Preisen, garantiert Fußball-abstinente Urlaubsdomizile („Ihr Flucht-Resort“).

WM-Sponsor Emirates fliegt das Logo der Titelkämpfe durch die Lüfte – hoffentlich wissen alle in Arabien, was dieses „Germany 2006“ mit dem Kindsköpfe-Emblem auf dem strahlenden Weiß ihrer Jets bedeutet. Das WM-Logo mit den Kullerknopfaugenkugeln begegnet uns auch hierzulande immer häufiger, etwa nach den ARD-„Tagesthemen“, wenn ein gelber Fußballfrosch für Atomstrom das Wetter präsentiert. Längst werden die Grinseköpfe von Fachleuten für visuelle Kommunikation als optischer Horror verhöhnt: „Es vereint auf kleinstem Raum die größten Fehler, die einem beim Entwerfen eines Signets unterlaufen können.“ Heißt: überladen, beliebig, unlogisch.

Der wahre Global Player, lesen wir, zeichnet jetzt „Doppelpass-Anleihen“ (eine Direktbank), schlägt mit Geschäftspartnern „Steilpässe in die Zukunft“ (Stadtmarketing Köln) und weiß: „Deutschland offensiv: Der Mittelstand greift an“ (Lexware). Fußballbücher erscheinen als Dutzendware, dazu vier neue Fachmagazine; sie heißen Rund, Player, Champ und Fußball-Fieber. Letzteres ist offizielles Fußball-Supplement der TV-Zeitschriften des Bauer Verlags. „Hinter der Rechte-Firma“, schrieb die Financial Times Deutschland, „stecken die Brüder Thomas und Christoph Gottschalk, die vom Medienkonzern Bertelsmann eine Unterlizenz mit dem Fifa-Logo erworben haben.“

Das Thema Lizenzen und Rechte führt zum Arbeitskreis „Kirche und Sport“ der Evangelischen Kirche. Seit November bringt die EKD das Materialheft „Ein starkes Stück Leben“ unter die Gläubigen, darin 84 Seiten Anregungen, wie man „während der Fifa Fußball-Weltmeisterschaft 2006 TM das Leben gestalten kann“. Brav wird in der Broschüre für „Sportpfarrer“ zu „Fußball-Kindergottesdiensten“ der Begriff „2006 []TM“ verwendet. TM heißt Trade Mark, Handelsmarke. Selbst die Kirchen sind Handelspartner – auch sie müssen sich streng an Fifa-Auflagen halten, etwa bei Übertragungen in Gemeinderäumen.

Selten hat sich der Fußball so freimütig zur schlichten Ware erklärt. Nach Branchenschätzungen hat die Fifa mehr als eine Milliarde Euro Lizenzgebühren erlöst, dreißig Prozent mehr als bei der WM 2002. Fünfzehn Hauptsponsoren wie Fujifilm, Budweiser und McDonald’s haben je rund 40 Millionen Euro für Werbe- und Nutzungsrechte bezahlt. Ein anderer Lizenznehmer ist Adidas, dessen WM-Ball „Teamgeist“ (siehe Foto) mit der designerischen Anmutung zwischen Slipeinlage, Löffelbiskuit und Migränemaske (Stückpreis 110 Euro) 10 Millionen Mal über die Ladentische kullern soll.

Am lukrativen Kuchen naschen wollen auch Geschäftsleute in den WM-Städten. Deshalb veranstalten die Industrie- und Handelskammern Info-Tage und Nachhilfeseminare. Wie ein Wanderzirkus zog der Tross von PR-Managern beteiligter Unternehmen (Avaya, „FC Deutschland GmbH“) durchs Land, ergänzt um Lokallobbyisten von IHK und Städtetouristik. Neulich waren sie zum zweiten Mal in Köln, Motto: „Anstoß für die Kölner Wirtschaft“.

Zuerst tritt WM-Botschafter Reiner Calmund auf, der ehemalige Manager von Bayer Leverkusen. Der XXL-Optimist referiert über „dat große Bissiness“ und will eine „Initialzündung für das Wir-Gefühl“ geben: „Kellner und Taxifahrer müssen sisch fortbilden, die 20 wischtigsten Vokabeln lernen in zehn Sprachen, zack, zack! Machen Sie Fachmeetings während der WM. Laden Sie Ihre Freunde ein, gehen dat Spiel schön in der Loge gucken und nachher zusammen noch ’n lecker’ Bier trinken. Dat iss Kundenbindung.“ Das Credo des Mannes, dessen Körper gewachsene Ballwerbung ist: „Fußball-WM is Emotion pur, dat muss man nutzen.“

Diese Vorlage nimmt der Handlungsreisende der Firma iSe-Hospitality Sales GmbH gern auf. ISe vermarktet 345.000 Tickets für die „Commercial Logen“, das sind zwölf Prozent aller Eintrittskarten, „und zwar die besten“. Geboten werden „höchste Exklusivität, First Class Gourmet Catering, erlesenes Ambiente in der Hospitality Village“ mit Champagner und Hostessen-Service. Es hätten „schon 2.000 Firmen gekauft, darunter 28 der 30 Top-DAX-Firmen“. Besonderer Vorteil: „Mit den separaten Eingängen brauchen Sie nicht mit den gemeinen Fans ins Stadion.“ Eine Zuhörerin zeigt auf („Ich spreche für die Sparkasse Leverkusen“) und will Einzelheiten wissen. Man verabredet sich zum Vier-Augen-Gespräch.

Viele Zuhörer wollen mit eigenen Produkten partizipieren, wenn Millionen Fans „zu Gast bei Geschäftsfreunden“ (IHK) sind. Fachanwälte referieren deshalb über verbotene Werbebotschaften. Die Fifa hat Markenschutz für neunzig Begriffe. „Und die Fifa klagt, und sie bekommt gerichtsübergreifend Recht“ bei solchem „Ambushing“ – zu Deutsch Parasitenmarketing. Beruhigend immerhin: „Zimmer frei während der WM“ gehe noch durch. Selbst bei der Benutzung des offiziellen WM-Logos kann man schwere Fehler machen. Deshalb nimmt die Fifa-Anleitung allein für den kleinen Copyright-Hinweis „© 2002 FIFA TM“ neben dem Bild eine ganze Seite ein.

Der Business-Bringer

Der Mastercard-Mann muss die Lokalmatadore aufmuntern: „Unsere Geschäftspartner dürfen sich als Mitveranstalter der WM fühlen.“

Und es gibt Trost: Beim „Public Viewing“, der erhoffte Business-Bringer schlechthin in allen WM-Städten, dürfen örtliche Firmen vor den Großbildleinwänden ihre Produkte vermarkten und bewerben – wegen des Hauptsponsorenschutzes aber nicht aus allen Branchen. Eine Freigabe haben örtliche Kinos, Lebensmittelhändler, Handwerker, Makler. Auf gut Fifa-Deutsch heißen die Massenpartys „B-Event“. Deutschlandweit sind bis zu sechs Million Touristen vorhergesagt. Das klingt gigantisch. Der Geschäftsführer Bayern Tourismus glaubt indes nicht, „dass sich die Massen bis in den letzten Winkel erspülen werden“.

Zudem dürften in einer WM-Zeit „die normalen touristischen Übernachtungen zurückgehen“. Sein Rat: „Das ganze Zeitfenster Juni/Juli 2006 nicht überbewerten“. Touristiker wissen: Bei den letzten drei Großveranstaltungen (Olympia, Fußball-WM und -EM) waren die Gesamtbesucherzahlen in den Event-Ländern sogar rückläufig. Denn Normaltouristen bleiben fern und stopfen das Loch auch nicht in den Folgemonaten. Sie haben Angst vor Tohuwabohu, Gewalt, überhöhten Preisen und glauben gern („Das Land ist ausgebucht“), man bekomme eh keine Zimmer mehr.

Dennoch: Verkündet wird schierer Optimismus. Volkswirtschaftler prognostizieren 10 Milliarden Euro Extra-Umsatz, das sind 0,5 Prozent des Bruttosozialprodukts. Von 100.000 neuen Arbeitsplätzen spricht die Bundesagentur für Arbeit. Das werden mehrheitlich Jobs im Catering, in Kneipen oder als Wachmann sein, meist kurzfristig. Ein großes Geschäft haben längst die Verleiher von Beamern und Großbildleinwänden gemacht. Die Geräte gelten trotz Rekordpreisen deutschlandweit als ausgebucht. Der Leiter des Berliner WM-Büros sagt: „Der Weltmarkt wird im Moment intensiv abgesucht nach dem kostbaren Gut Videoleinwände.“

Geschenkhits schon zu Weihnachten waren, freut sich der Einzelhandel, WM-Trikots und vor allem Flachbildschirme. Wie entlarvend: Da ist Fußball-WM quasi im eigenen Vorgarten, und am intensivsten partizipieren die stolzen Inländer durch: fern-sehen. Das ist nichts Neues: Die WM 1954 half die WM der Glotze als solcher zum Durchbruch, 1974 wurde das Farbfernsehgerät vermarktet und die WM 2006 soll, so die Firma Sharp, „zum Turbomotor für HDTV“ werden, dem hochauflösenden Digitalfernsehen. Wo es Eintrittskarten nur mit lottohaftem Glück zu ergattern gibt, sitzt man halt doch lieber im glänzenden Deutschland-Leibchen vor der Mattscheibe.

Dabei gibt es Hoffnung. Bei Ebay wurden gerade vier Finaltickets für unter 8.000 Euro ersteigert. Und Vermarkter iSe teilt mit, dass Logenplätze ab sofort auch für Privatleute buchbar sind – pro Person und Vorrundenspiel schon ab 990 Euro.