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Archiv-Artikel

berliner szenen Weiß wie Schnee

Reinheitsanfall

Die Idee kam mir in einer seltsamen Nacht. Ich stand allein oben auf der Treppe vor der Alten Nationalgalerie, und keine anderen Fußspuren als meine eigenen waren in dem frisch gefallenen Schnee auf den Stufen zu sehen. Keine Ahnung mehr, was mich so spät dorthin trieb. Bestimmt schien der Vollmond, und ich dachte: Warum kann man eigentlich nicht den Schnee unter Denkmalschutz stellen? Sozusagen als Naturschauspiel einmal im Jahr.

Für drei Tage ist es dann verboten, den Neuschnee in graue Dreckhaufen und salzigen Matsch zu verwandeln. Die Stadt wird so still, dass man den Fall der dicken Flocken wie Watte in den Ohren zu fühlen glaubt, und nirgends mehr reißt einen das kratzige Geräusch von Schneeschaufeln und das Jaulen der Kehrmaschinen aus dem Schlaf. Schule und Arbeitsplatz erreicht nur, wer gute Schuhe hat und den Weg zu Fuß nicht scheut. Der Verkehr hat Pause. Und ein Licht und eine Stille liegen über der Stadt wie seit hundert Jahren nicht mehr. Wahrscheinlich trägt die lange Dunkelheit an Wintertagen keine kleine Schuld an diesem romantischen Wahn vom glitzernden Schnee.

Aber während ich mir noch Details ausmalte und mit den organisatorischen Fragen beschäftigt war, fiel mir plötzlich etwas ein. Erinnert das nicht fatal an Fernsehformate, das Leben um 1900 auf dem Land, Schule um 1900 usw.? Hat wohl nichts genützt, einen großen Bogen um diese Retrospektakel gemacht zu haben, jetzt denke ich sie mir schon selber aus. Nicht nur für Freiwillige, nein, gleich für eine ganze Stadt. Ein Anfall von ästhetischem Totalitarismus.

Reuig nehme ich von dem Gedanken Abstand und scharre mit den Füßen im knirschenden Splitt. KATRIN BETTINA MÜLLER