Bildungsferne Sichten

PREKÄR Die Deutschen sind die ärmsten Europäer – zwei Forscher haben untersucht, wie Medien Armut und Reichtum sehen

Viele Meinungsbeiträge zeichnen sich durch argumentative Dürftigkeit und sprachliche Floskeln aus

VON RUDOLF WALTHER

Armut und Reichtum sind in deutschen Medien entweder Randthema oder knalliger Aufreger. Das erwies sich gerade erst wieder an den Reaktionen auf die Zahlen der EZB-Vermögensstatistik. „Deutsche sind die Ärmsten im Euroraum“, titelte die FAZ am 10. April und legte einen Tag später mit dem Leitartikel „Reiche Zyprer, arme Deutsche“ nach. Jede Statistik hat ihre Tücken, aber die Vermögensmessung am Median hat es in sich. Der Median ist eine rein statistische Größe, die nur aussagt, dass eine Hälfte der Bevölkerung über dem Mittel aller Vermögenswerte liegt, die andere Hälfte darunter. Er bezeichnet also nicht das reale Durchnittsvermögen. Dieses liegt für Deutschland viermal höher als der Median.

Der Kommunikationswissenschaftler Hans-Jürgen Arlt und der Publizist Wolfgang Storz – ehemaliger Chefredakteur der Frankfurter Rundschau – haben die Berichterstattung deutscher Medien zum Thema Armut/Reichtum untersucht. Sie sichteten für die Zeit von 2008 bis 2012 die Meinungsbeiträge in vier Tageszeitungen (Tagesspiegel, Berliner Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung) und alle Text in zwei Wochenblättern (Spiegel, Die Zeit).

Ihrer Studie „Portionierte Armut, Blackbox Reichtum. Die Angst des Journalismus vor der sozialen Kluft“ lagen damit rund 10.000 Seiten an Texten zu den Themen Reichtum, Verarmung, Prekariat und soziale Ungleichheit zugrunde.

Welchen „journalistischen Gebrauch der Pressefreiheit“ machen die Zeitungen im Umgang mit diesen Themen? Die gesellschaftspolitische Dimension von Reichtum sowie dessen Macht und Einfluss auf Politik und Gesellschaft blenden viele Kommentare ebenso aus, wie den Zusammenhang von Reichtum und Armut sowie die Gründe der öffentlichen Armut. Armut und Reichtum werden oft nicht nur getrennt behandelt, sondern – beim Reichtum – personalisierend verharmlost oder – bei der Armut – nach „Problemgruppen“ (Kinder, Frauen, Alte, Hartz-Kunden, Alleinerziehende etc.) fragmentiert und damit relativiert.

Wenn es um Armut geht, kennen Journalisten oft nur zwei Akteure – das arme Individuum und den Staat. Unternehmen, die verantwortlich sind, dass Arbeitende von ihrem Lohn allein nicht leben können, fallen aus diesem simplen Bild heraus.

Bei ihrer Untersuchungsmethode versteifen sich die Autoren nicht auf Ideologiekritik, wonach die Bewertungen der einen Seite ideologisch, die der anderen „realistisch“ sind. Sie nennen ihr Vorgehen „diskursive Öffnung“ und kombinieren dabei die Systemtheorie von Niklas Luhmann mit der „demokratischen Sensibilität“ der kritischen Theorie von Jürgen Habermas. Nach Luhmann beruht jede Wertung eines Beobachters auf einer Entscheidung für einen Begriff.

Für ihre Netzrecherche und die Auswahl der Artikel verwendeten die Autoren 45 Suchbegriffe aus dem semantischen Feld von Armut, Reichtum und Ungleichheit. Aus der sehr großen Zahl der so ermittelten Fundstellen in den sechs Zeitungen wählten sie schließlich die pointiertesten Meinungsbeiträge aus. So blieben zum Beispiel für die FAZ von den 2.148 Fundstellen für die Detailanalyse 202 Artikel übrig, für die SZ 135 und für den Tagesspiegel 109. Das Ergebnis ist ernüchternd.

Nur 2 bis 4 Prozent der ausgewählten Kommentare beschäftigen sich mit der Kluft zwischen Arm und Reich. Meinungsbeiträge dazu zeichnen sich durch argumentative Dürftigkeit und sprachliche Floskeln aus. Grobschlächtige Standardsätze („Mindestlöhne vernichten Arbeitsplätze, Steuern vertreiben Reiche ins Ausland“) und bloße Schlagwörter („sozial Schwache“, „bildungsferne Schichten“) prägen viele Texte. Für die untersuchten Medien ist Reichtum eine Blackbox, und Armut behandeln sie fahrlässig-vereinfachend. Normativ bewegen sie sich in einer Sphäre, in der die Verfassungsnormen Chancengleichheit und Sozialpflichtigkeit des Eigentums als Kriterien nicht vorkommen.

Die beiden Autoren differenzieren ihre Befunde in der Detailanalyse und fragen nach den Gründen, warum Armut/Reichtum so und nicht anders oder gar nicht kommentiert werden. Die Berliner Zeitung bewertet Reichtum durchgängig negativ, während sich Kommentatoren im Tagesspiegel oft in „küchenphilosophischen Anmerkungen über das Allgemeinmenschliche“ ergehen.

Journalisten kennen oft nur zwei Akteure: das arme Individuum und den Staat

In der Süddeutschen Zeitung gibt es zwei „Deutungswelten“. Der einen zufolge ist die Zahl der Erwerbstätigen durch die „Hartz“-Reformen gestiegen, nach der anderen haben sich die Armut und Erniedrigung durch eben diese „Reformen“ verstärkt. Ähnlich kontrovers diskutiert die SZ die Steuerpolitik.

Die FAZ kümmert sich weniger um Armut und Reichtum als um die Mittelschicht und die Staatsschulden. Das Misstrauen der Kommentatoren gegen die Politik drückt sich hier gern durch „Herablassung und Verachtung“ aus.

Wie übrigens auch im Spiegel, der sich nur „punktuell, wenig engagiert und damit unzuverlässig“ mit Armut und Reichtum beschäftigt. Besser kommt die Zeit weg, wo die „Armuts- und Reichtumsproblematik“ stark präsent sei, weil man dort Ökonomie als Gesellschaftspolitik verstehe.

Die Studie – von der Rosa-Luxemburg-Stiftung angeregt und finanziert – wird am 20. April in Berlin vorgestellt.

■ Die zitierten Stellen entstammen der Studie von Arlt und Storz. Sie ist ab Sonnabend über die Seite der Rosa-Luxemburg-Stiftung online abrufbar. Kurzlink: bit.ly/170Cwhz