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Archiv-Artikel

Satter Wolf

„Der Tod ist ein Irrtum“, ein Text- und Fotoband der Fotografin und Heiner-Müller-Witwe Brigitte Maria Mayer

Brigitte Maria Mayer versucht aus den privaten Augenblicken ein künstlerischesManifest zu machen

Die fünf Jahre von Ende 1990 bis zu seinem Tod dürften die anstrengendsten seines Lebens gewesen sein. Da sind die Akademien der Künste in Ost und West, deren Zusammenführung er als Präsident der Ostakademie moderiert. 1992 wird er Leiter des Berliner Ensembles, ein Jahr später gelingt ihm in Bayreuth mit „Tristan und Isolde“ eine jener Inszenierungen, die legendär nennt, wer nicht doch seine letzte Regiearbeit am Berliner Ensemble vorzieht: Brechts „Arturo Ui“ mit Martin Wuttke. Geschrieben hat Heiner Müller wenig in diesen Jahren, dafür war er nach dem Fall der Mauer zur öffentlichen Figur geworden und erlebte gleichzeitig ein vom Tod überschattetes privates Glück mit der Heirat 1992 und Vaterfreuden.

Seine Frau, Brigitte Maria Mayer, legt nun zehn Jahre nach seinem Tod einen Foto- und Textband vor, in dem sie die letzten Jahre Revue passieren lässt. Liest man in Heiner Müllers Gesicht und Textentwürfen, fragt man sich, ob er nicht doch schon Anfang der Neunzigerjahre ahnte, wie wenig Zeit ihm bleiben würde. „In Deinen Augen grau/wächst meine Kindheit stirbt/mein Tod“ schreibt er Ende 1991. Die „Declaration of Love“ an Brigitte Maria Mayer ist allerdings eher ein „Presentiment of Death“ aus einer Zeit, da Müller neben dem privaten Glück von Schreibängsten geplagt war und in lyrisch-epischen Entwürfen nach dem Grund und Nachlassen der Schreibkraft suchte.

Vielleicht sei er ja einfach nur müde geworden, „ein Wolf, der seinen Hunger vergessen hat“ notiert er 1994. Und: „Seit 1998 habe ich nichts mehr geschrieben,/außer Gedichte, was man Schreiben/nicht nennen kann es ist eine Liebhaberei + hat keinen Zweck“. Das sind die kleinen Entdeckungen, für die man der Fotografin und Performance-Künstlerin Mayer dankbar ist. Kennen gelernt hat sie Müller auf einem Verlagsfest in Frankfurt. Kurz darauf zog sie zu ihm in den Lichtenberger Plattenbau. Das Paar reiste nach Kuba, wo es bei Bekannten in der Altstadt von Havanna zum Jahreswechsel 1991/92 seine wohl unbeschwerteste Zeit erlebte. Eines der wenigen Bilder zur kubanischen Episode fällt aus dem Rahmen und wirkt wie ein Dokument aus Urzeiten der Daguerreotypie. Müller sitzt entspannt im Schoße einer kubanischen Familie mit der unvermeidlichen Zigarre in der Linken. Mayer ist ausnahmsweise nicht Fotografin, sondern legt den linken Arm um ihn, während der kreolische Familienverbund für das intellektuelle Künstlerpaar Ungewohntes repräsentiert: die glückliche Großfamilie. Im Kleinen wird aber doch eine runde Sache daraus. Mayer wird schwanger und Heiner Müller im Alter von 63 Jahren erwartungsvoller Vater.

Heute leitet die Witwe das entsprechende Kapitel etwas stilunsicher mit der Überschrift „Glücklicher Zusammenstoß“ ein und pflastert die folgende Doppelseite mit Fotos der schwangeren Mutter. Man fragt sich, ob Mayer nicht klüger beraten gewesen wäre, den Vorhang der Privatsphäre nicht ganz so weit zu lüften, um à la Lennon/Ono aus den privaten Augenblicken ein künstlerisches Manifest zu machen.

Immerhin gibt es gerade in ihrer Privatheit anrührende Bilder – etwa das Triptychon mit Heiner Müller im Münchner „Rechts der Isar“: die Tochter auf dem Schoß des Todkranken; sein Hals, gezeichnet vom Einstich des Katheters; die Ärzte am Krankenbett, die eine Punktion vorbereiten, während er scheinbar ungerührt liest. Das wiederum sind Einblicke der dezenten Art. Auch als Herausgeberin lässt Mayer Sorgfalt walten und präsentiert Entwürfe aus Müllers Nachlass sowohl als Typoskripte wie als Umschrift. „Du liegst und träumst deinen letzten Schlaf/unter dem Mantel der tödlich Geliebten/Aber ich muß zurück in den mondlosen Tag/Der mir das Herz verbrennt zu Goldstroh“ schreibt er während der „Tristan“-Proben 1993. Kurz davor steht die Frage, „ob die Welt die Mühe des Lebens noch aufwiegt“. JÜRGEN BERGER

Brigitte Maria Mayer, Heiner Müller: „Der Tod ist ein Irrtum – Bilder, Texte, Autographen“, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2005, 160 S., 78,00 €