bücher für randgruppen : Der Unterwasserbiologe André Bernand und der Fotograf Franck Goddio erkunden das versunkene Alexandria
Bevor das Jahr untergeht, tauchen wir ein in das Reich der Sphinx. Im Gegensatz zu Leni Riefenstahl, die sich seinerzeit auf ihrem Geburtsdokument um einige Jahre verjüngte, um noch einen Taucherkursus belegen zu dürfen, muss aber niemand nass werden. Während Riefenstahls Motive vom weißen Athleten der Dreißigerjahre über die afrikanischen Nuba der Sechzigerjahre zur Meereskoralle in den Achtzigerjahren all das umfasste, was im Allgemeinen als klassisch „gut aussehend“ empfunden wird, stammen die Motive hier aus der klassischen Archäologie. Oder vielleicht der klassischen pharaonischen Kunst.
Begleiten wir also den Unterwasserbiologen Franck Goddio und den Fotografen Christoph Gerigk über ein großformatiges Hochglanzbuch in den untergegangenen antiken Hafen von Alexandria im Nildelta. All das, was da im Meer liegt, verborgen von Schlick und Schlamm, gilt natürlich auch als schön, selbst wenn mal ein Kopf fehlt oder ein Arm.
Im Vorwort klärt uns André Bernard darüber auf, dass „Alexandria die Gefährtin Alexander des Großen war, der sich in sein Schicksal fügte, gleichwohl er sich eher Männern hingezogen fühlte, was ihn im Übrigen nicht daran hinderte, zu heiraten.“ Ein eigenartiger Satz, den Bernard damit auflöst, dass man „Alexandria richtigerweise als Mann betrachten müsste“.
Völlig verwirrt lassen wir diese Überlegungen an Land zurück und steigen in die „Untypische Laufbahn eines Archäologen“ ein, wie uns die Überschrift suggeriert. Goddio war nämlich mal im Wirtschafts- und Finanzwesen tätig und tauschte als 37-Jähriger seinen Business-Anzug gegen einen isothermischen Taucheranzug. Mit Unterwasserstaubsaugern werden jahrtausendealte Sedimente abgesaugt, und dann tauchen wunderbare Skulpturen aus dem Nichts auf: der Kopf einer steinernen Sphinx. Sie betrachtet den Taucher in seinem Anzug mindestens genauso geheimnisvoll wie er sie. Aber, olala , das ist natürlich keine griechische, weibliche Sphinx, sondern ein ägyptischer, also männlicher Sphinx. Im grünen, algenhaltigen Wasser beugt sich ein behelmter gelber Kopf über eine Skizze. Der Unterwasserarchäologe skizziert mit den gleichen Gegenständen wie sein Kollege vom Land: Maßband, Bleistift, Schreibtafel. Zuvor haben seine Kollegen in aufwändiger Arbeit den Meeresboden mit Echoloten und Kernspinresonanzmagnetometer ausgeforscht. Da ist ein weiterer Kopf, den der Taucher unter Wasser in seinen Händen hält: „Ist die zärtliche Berührung der Wange einer untergegangenen Römerin aus poliertem Marmor sinnlich oder beruflich?“, fragt der Bildtext.
Es geht hier also zuvorderst um Fragen von Selbstverwirklichung. Warum auch nicht? Dem römischen Marmorkopf ist es eh egal. Liebevoll werden die vom Meeresboden aufgesammelten Artefakte in nummerierte Netze verpackt, um auf dem Schiff im Süßwasserbottich der Entsalzung zu harren. Der Chef der Taucher, Jean-Claude Roubaud, zeigt sein Grabungstagebuch. Es handelt sich offensichtlich um eine Kopie des Buchs, die mit einem recht unattraktiven Computerschreibschriftprogramm ausgefüllt ist: „14h30. Der Seegang wird stärker. Sehr bedeckt“. Da wird es höchste Zeit, noch ein paar Moulagen, Abgüsse mit rosa Modelliermasse, vom Körper des Kanopenpriesters zu nehmen.
Unterwasserfotograf Gerigk wartet derweil auf klare Sicht: So kann er den kopflosen schwarzen Ibis in vorteilhaftem Licht porträtieren. Ihm gelingen wahrlich schöne Aufnahmen an diesem Ort, wo griechische und ägyptische Kultur so eigenartig zusammentreffen. Versorgt mit vielen interessanten Informationen über die Besonderheiten der Unterwasserarchäologie trocknen wir nun unsere vergänglichen Körper und begrüßen das neue Jahr. WOLFGANG MÜLLER
André Bernand, Franck Goddio: „Versunkenes Alexandria – Tauchen im Reich der Sphinx“. Kosmos, Stuttgart 2005, 144 Seiten, mit 160 Farbfotos, 39,90 Euro