: Zwischen Hausaufgabenhilfe und Videothek
Die Stadtbibliotheken sind auch ein Spiegel der Einwohnerstruktur: In Kreuzberg zum Beispiel sind Ratgeber zu den Themen Medizin und Bewerbung gefragt. In Neukölln greifen die Besucher liebend gerne zu DVDs
Allen Abgesängen zum Trotz, dass Bücherlesen anachronistisch sei und höchstens noch Senioren locke, werden die insgesamt 101 Berliner Stadtbibliotheken immer beliebter. Im vergangenen Jahr verzeichneten sie rund 5 Prozent mehr Besucher als 2003, sagt Juliane Funke, in der Kulturverwaltung zuständig für die öffentlichen Bibliotheken. Durchschnittlich 2,3 Mal habe jeder Berliner pro Jahr eine Bibliothek besucht. Diese gute Bilanz ist jedoch nicht allein auf das Angebot von Büchern und Zeitschriften, den traditionellen Schwerpunkt der Büchereien, zurückzuführen: Immer wichtiger werden neue Medien, in den vergangenen Jahren vor allem DVDs.
Dies zeigt ein Besuch in der Helene-Nathan-Bibliothek in Neukölln, einer der größten öffentlichen Büchereien der Stadt. Auf rund 4.000 Quadratmetern, gestreckt über zwei Etagen im Einkaufszentrum „Neukölln Arkaden“, warten hier Bücher, Zeitschriften, Zeitungen, Noten, CDs, CD-Roms, Videos und DVDs auf Interessenten. 1.500 Berliner besuchen die Bibliothek jeden Tag. „Wenn ich danach gehe, was die Besucher wollen, würde ich nur noch DVDs anschaffen“, sagt Leiterin Elisabeth Wiesbaum. „Dann wäre meine Bücherei an der Spitze der Ausleihezahlen. Das geht aber nicht. Ich muss zum Beispiel auch teure Noten kaufen.“
Gleichzeitig weist sie darauf hin, wie schnell manche Medien veralten: Die klassischen Videokassetten würden nicht mehr so stark nachgefragt. Der Grund: „DVDs haben den Vorteil, dass man bei ihnen die Sprache einstellen kann“, sagt Wiesbaum. Schließlich sei für einen großen Teil ihrer Besucher Deutsch nicht die Muttersprache.
Gefragt sind auch Bücher und Kassetten zum Thema „Deutsch als Fremdsprache“, so die Bibliotheksleiterin. Der Anteil fremdsprachiger Bücher ist dennoch vergleichsweise gering. „Unser Ansatz ist es, die Leser dabei zu unterstützen, Deutsch zu lernen“, so Wiesbaum.
In der Wilhelm-Liebknecht/Namik-Kamal-Bibliothek in Kreuzberg sind viele der Besucher bereits Stammgäste. Die Lesesäle sind als Treffpunkt und Arbeitsplatz bei Schülern beliebt, die zu Hause keinen Platz oder keine Ruhe zum Lernen haben, berichtet Leiterin Birgit Braun. Ein türkischstämmiger 1-Euro-Jobber bietet Hausaufgabenhilfe an. Genutzt werde dieses Angebot täglich von 30 bis 40 Schülern, „vorwiegend von Kindern mit Migrantenhintergrund“, hat Braun beobachtet.
Den konstant guten Zulauf von erwachsenen Besuchern erklärt sich Bibliotheksleiterin Braun durch den großen Bestand der Bücherei an Ratgebern, die Tipps für die praktische Lebensgestaltung geben. Besonders gefragt seien Bücher zu medizinischen und psychologischen Problemen oder auch Ratgeber für den Alltag, etwa mit dem Titel „Wirtschaftlich heizen“. Auch Bewerbungshelfer bleiben nicht lange im Regal stehen, so Braun. „Da könnten wir uns totkaufen, da ist nie genug da.“
Vergangenes Jahr betrug der Etat aller Stadtbibliotheken für den Ankauf von Medien insgesamt 2,5 Millionen Euro. Laut der Studie einer vom Kultursenator eingesetzten Expertenkommission ist dieser Betrag vergleichsweise gering, wenn man die potenziellen Kunden einrechnet – in Berlin also die rund 3,4 Millionen Einwohner. In anderen Großstädten sieht laut der Studie die Rechnung besser aus: So haben München mit 1,25 Millionen Einwohnern und Hamburg mit 1,7 Millionen potenziellen Bücherei-Nutzern ebenfalls 2,5 Millionen Euro für Neuanschaffungen eingeplant. Dabei ist der Bedarf groß: Von ihrem Bestand mustern die Berliner Bibliotheken jährlich im Schnitt 5,4 Prozent aus und ersetzen ihn. Das heißt, der Bestand einer Bibliothek wird alle 20 Jahren einmal erneuert. ANNETTE LEYSSNER