: Leseratten fehlt der Nachschub
Die Büchereien schlagen Alarm: 70 Prozent der Bestände der Landesbibliothek droht der Verfall. Für die angemessene Archivierung und notwendige Restaurierung sei nicht genügend Geld vorhanden
VON BENJAMIN BRAND
Die Berliner Adressbücher von 1899 bis 1943 sind eine wahre Fundgrube für Informationen. Nicht nur sind darin die Einwohner nach Namen und Straßen, Branchen und Behörden aufgelistet. Auch Wissenswertes über Sehenswürdigkeiten, Theater und Verkehrsverbindungen finden sich dort, dazu die jeweiligen Fahrpreise der U-Bahn, die Bestuhlungspläne einiger Konzertsäle – und das alles über einen Zeitraum von 44 Jahren. Doch einfach einmal durch die Adressbücher zu blättern, ist zumindest bei jenen Exemplaren, die die Zentral- und Landesbibliothek (ZLB) aufbewahrt, nicht mehr möglich: Die Bücher zerfallen immer mehr, sie werden nicht mehr ausgehändigt.
Die historische Adressenübersicht ist kein Einzelschicksal: In ganz Berlin und Brandenburg sind die Bestände der Archive und Bibliotheken massiv bedroht. Das zeigt eine Studie der ZLB, die den drohenden Verlust erstmals in konkrete Zahlen fasst. Danach weisen die Bestände von 70 Prozent der Bibliotheken und Archive in Berlin und Brandenburg teils schwere Schäden auf. Die Hälfte dieser geschädigten Bücher und Akten sind inzwischen laut der Studie nicht mehr für die Öffentlichkeit voll nutzbar. Tendenz: steigend.
Schlechte Archivierung
Eine Hauptursache des Verfalls sind laut der Studie die schlechten Rahmenbedingungen der Archivierung. Angemessene Räumlichkeiten, die den Anforderungen der Buchlagerung gerecht werden, sind oftmals nicht vorhanden. Und Schäden durch Schimmel, Säurebildung im Papier und Tintenfraß können nur durch aufwendige Restaurationsverfahren behoben werden. 54 Prozent der Institute, die an der Untersuchung teilgenommen haben, stehe dafür jedoch kein oder nicht genügend Geld zur Verfügung. Die Kosten lediglich für die dringendsten Maßnahmen betragen, so die Untersuchung, 680 Euro pro laufenden Buchmeter.
Bei der offiziellen Übergabe der Studie Ende November an die Staatssekretärin für Kultur, Barbara Kisseler, und die brandenburgische Wissenschaftsministerin, Johanna Wanka (CDU), versprach Kisseler, dass sie sich für den Erhalt der Bestände stark machen wolle. „Mit der Studie haben wir im Kampf um Gelder nun etwas in der Hand, mit dem wir argumentieren können.“ Allerdings werde die Bestandssicherung kaum vor 2007 im Haushalt der Kulturverwaltung berücksichtigt werden. Die Verhandlungen über die Verteilung der Mittel im nächsten Doppelhaushalt sind gerade abgeschlossen.
Die Staatssekretärin verspricht sich von der Studie auch eine Schärfung des öffentlichen Bewusstseins für das Problem. Das erleichtere zudem die Beschaffung von Drittmitteln. Und: Mit einer Spende von 2 Millionen Euro der Stiftung Deutsche Klassenlotterie werden nun etwa 100.000 Bücher restauriert. Solche Mittel auch für die kleinen Bibliotheken Brandenburgs zu erwerben, dürfte sich allerdings schwieriger gestalten.
Die Digitalisierung von alten Büchern allein ist keine Lösung, wie ebenfalls das Beispiel der Adressbücher zeigt. Zwar kann man alle darin enthaltenen Informationen inzwischen digital auf der Internetseite der ZLB abrufen, was einige Zeit bei der Recherche erspart. Dabei lässt sich allerdings nicht nachvollziehen, auf welchem und mit welchem Material die Informationen aufgezeichnet sind – also zum Beispiel die Art des Papiers, der Tinte und der Bindung. Der Informationsträger hat aber eine eigenständige kulturelle Relevanz. Diese Art der Information kann ein elektronisches Medium nicht reproduzieren, sondern sie ist lediglich dem Original eigen.
Koordination verbessern
Das Team, das die Studie organisiert hat, will auch in Zukunft aktiv bleiben. Langfristig will man eine Landesstelle einrichten, die die Konservierung der Bestände in Berlin und Brandenburg koordiniert, sagte Annette Gerlach, Organisatorin der Studie. In Sachsen gebe es eine solche Stelle bereits.