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Archiv-Artikel

„Kundschafter für den Frieden“

Vergeblich warnte der Kommunist Richard Sorge vor 65 Jahren den sowjetischen Diktator Stalin vor dem bevorstehenden Angriff der deutschen Wehrmacht. Der Journalist, der an der Universität Hamburg Staatswissenschaften studiert hatte, wurde 1944 in Japan hingerichtet. Erst zwei Jahrzehnte nach seinem Tod wurde Richard Sorge als „Meisterspion“ geehrt

„Kriege werden nur von einer kapitalistischen Gesellschaft inspiriert“„Der Krieg wird am 22. Juni beginnen“, hieß es in einem Funkspruch vom 15. Juni 1941Am 27. Jahrestag der russischen Oktoberrevolution starb Sorge in Japan am Galgen

Von Bernhard Röhl

„Hier ruht ein Held, der sein Leben hingab im Kampf gegen den Krieg, für den Frieden auf der ganzen Welt“: Auf dem Friedhof Tama bei Tokio liegt der deutsche Journalist Richard Sorge begraben, der am 4. Oktober 1895 geboren wurde. In grauen Granit ist seine Kurzbiographie eingemeißelt: „Geboren 1895 in Baku, 1933 nach Japan gekommen, 1941 verhaftet, hingerichtet am 7. November 1944“.

Für die Frankfurter Zeitung berichtete Sorge aus Tokio über Fernost, verfasste insgesamt 163 Beiträge für das Blatt. Seine journalistische Tätigkeit für die Frankfurter wie auch für etliche andere Publikationen im „Dritten Reich“ diente Sorge indes dazu, als „Kundschafter für den Frieden“ wichtige Informationen an den Geheimdienst „Aufklärung der Roten Armee“ zu funken.

Sein abenteuerliches und gefährliches Leben – das vor kurzem erst in einer neuen Verfilmung über deutsche Fernsehschirme flimmerte – führte Richard Sorge von Berlin über Kiel, Hamburg und Solingen nach Moskau, Shanghai und eben nach Tokio. Zu Beginn des 1. Weltkriegs war Sorge 18 Jahre alt. Er meldete sich freiwillig als Soldat, „von der Schulbank zum Schlachthof“ nannte er diese Entscheidung später, getroffen, um „der Schule und einem Leben zu entfliehen, das ich für sinnlos hielt“.

Dreimal wurde er verwundet. Einer von Sorges behandelnden Ärzten und dessen Tochter, eine Krankenschwester, standen der SPD nahe. Von den beiden hörte der Verletzte „zum erstenmal von Lenin und von seiner Tätigkeit in der Schweiz“, berichtete Sorge später in seinen Aufzeichnungen. „Jetzt fühlte ich mich imstande, die Lösung all der Probleme zu finden, die wir an der Front gesucht hatten. (...) Kriege werden letztlich nur von einer kapitalistischen Gesellschaft inspiriert“, so Sorges Erkenntnis. „Um die Menschheit von diesem Unglück zu befreien, muss man den Kapitalismus ablehnen!“

Im Januar 1918 wurde er als Unteroffizier aus dem Heeresdienst entlassen und zog nach Kiel, um dort Staatswissenschaften zu studieren. Dort „wurde ich in die USPD aufgenommen“, erinnerte er sich später im japanischen Kerker. „Meine erste Arbeit als Mitglied der Partei bestand darin, zusammen mit zwei oder drei Genossen eine Gruppe sozialistischer Studenten zu gründen, die ich dann leitete.“

Revolutionäre Matrosen luden den jungen Agitator in ihre Kasernen ein. Es war die Zeit, da der Aufstand der Matrosen der Hochseeflotte die Novemberrevolution einleitete. Sorge, der jetzt dem Rat der Arbeiter und Matrosen angehörte, hörte Vorlesungen bei dem Nationalökonomen Kurt Gerlach und bereitete seine Doktorarbeit vor.

Im April 1919 reiste er nach Hamburg, um hier Material für seine Dissertation zu sichten. Sorge blieb in der Hansestadt, weil ihm seine revolutionäre Tätigkeit an der Kieler Universität Schwierigkeiten bereitete. Seine Doktorarbeit reichte er an der noch jungen Hamburger Universität ein. Mit Urkunde vom 8. August 1919 wurde Sorge bestätigt, dass ihm die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät „auf Grund mit ‚Auszeichnung‘ bestandener Prüfung und Veröffentlichung seiner Schrift ‚Die Reichstarife des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine‘ die Würde als Doktor der Staatswissenschaften“ verliehen habe.

In Hamburg schrieb Sorge Beiträge für die Hamburger Volkszeitung der örtlichen KPD. „Der Genosse Sorge ist mir als temperamentvoller, sehr agiler Mensch in Erinnerung, der sehr interessant erzählen konnte“, schrieb später Hans Kallus, Funktionär der kommunistischen Kinderbewegung und des Kommunistischen Jugendverbandes. „Er verstand es, die Abenteuerlust, die in uns Jungen steckte, auf die Probleme zu lenken, um die es damals ging.“ Ende des Jahres 1919 wurde Sorge Mitglied der KPD.

1929 traf Sorge in Moskau, wo er sich seit Mitte der 20er Jahre regelmäßig aufhielt, auf den aus Lettland stammenden General Jan Karlowitsch Bersin, den damaligen Leiter des Geheimdienstes „Verwaltung Aufklärung der Roten Armee“. Bersin warb den Journalisten für die Organisation an. Ab 1930 lieferte er von Shanghai aus Informationen nach Moskau – vor allem über das Vordringen Japans in China.

Am 6. September stempelte ein japanischer Passbeamter das Datum von Sorges Ankunft in Yokohama in dessen Pass. Mit dem Zug reiste er nach Tokio, stellte sich bei der deutschen Botschaft vor – und erkundigte sich, wo er Mitglied der Auslandsorganisation der NSDAP werden könne. Scheinbar freundete Sorge sich mit dem früheren Geheimdienstoffizier und späteren deutschen Botschafter in Japan, Eugen Ott, an. Der Diplomat sollte Sorges wichtigste Informationsquelle werden.

Nach und nach scharte der Spion Sorge insgesamt 39 Mitstreiter um sich, 32 davon Japaner, und baute sich beste Kontakte in die deutsche Administration vor Ort auf. So konnte die „Ramsay“ geheißene Gruppe im März 1941 nach Moskau funken, dass Hitlerdeutschland den „Nichtangriffspakt“ zu brechen und gegen Moskau zu marschieren plane. „Der Krieg wird am 22. Juni beginnen“, hieß es nach mehreren Präzisierungen dieser Information, in einem Funkspruch vom 15. Juni 1941.

Allerdings vertraute der ansonsten geradezu krankhaft misstrauische Stalin seinem Pakt mit Hitler blindlings, denn er wies alle Warnungen energisch zurück. „Gehört zu den zweifelhaften und irreführenden Nachrichten“, notierte er an den Rand einer von Sorge übermittelten Mitteilung. Sorges Freund und Vorgesetzter General Borsin war schon 1937 auf Stalins Order hin ermordet worden. Die Ignoranz des Diktators empörte Sorge. „Jetzt langt es mir aber!“, soll er gerufen haben, als Moskau ihn über Funk wissen ließ, dass man dort nicht an die drohende Gefahr glaubte.

Augenzeuge dieses Ausbruchs wurde Sorges Funker, Max Christiansen von der schleswig-holsteinischen Insel Nordstrand. Im 1. Weltkrieg als Funker ausgebildet, war Christiansen einige Jahre lang von Hamburg aus zur See gefahren und hatte sich schließlich unter dem Decknamen Clausen in Tokio niedergelassen. Hier betrieb er eine Tarnfirma und kundschaftete für den Geheimdienst der Roten Armee.

Christiansen/Clausen berichtete später, Sorge sei sich im Klaren darüber gewesen, dass die Sowjetunion schrecklich hohe Verluste erleiden werde, sollte sie unvorbereitet von der deutschen Wehrmacht überfallen werden.

Wenige Stunden vor ihrer Verhaftung funkten Sorge und Christiansen/Clausen nach Moskau, dass Japan die fernöstlichen Gebiete der Sowjetunion nicht angreifen werde, sondern Amerika und England: „Die Gefahr für die Sowjetunion ist vorbei!“ Nur, weil das sowjetische Oberkommando daraufhin Truppen aus Sibirien nach Westen verlegte, konnte der deutsche Vormarsch kurz vor Moskau gestoppt werden. Diese folgenreichste, weil im Kreml auch erhörte Information sollte später zur nachträglichen Ehrung Sorges in der Sowjetunion führen – zwei Jahrzehnte nach seinem Tod.

Zunächst indes wurden die beiden Deutschen am 18. Oktober 1941, dem Geburtstag von Kaiser Hirohito, von der japanischen Geheimpolizei verhaftet. Nach und nach wurden auch die anderen Mitglieder der Gruppe in Geheimverfahren abgeurteilt. Außer dem japanischen Journalisten Hozumi Ozaki erhielt auch Richard Sorge die Todesstrafe. Christiansen/Clausen wurde zu lebenslänglicher Haft, seine Frau zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Am 7. November 1944 – dem 27. Jahrestag der russischen Oktoberrevolution – starb Sorge am Galgen.

Die Regierungen der Sowjetunion wie auch der DDR schwiegen hartnäckig über das Schicksal des einstigen Meisterspions. Erst 1964 verlieh das Präsidium des Obersten Sowjets ihm posthum den Ehrentitel „Held der Sowjetunion“. Von nun an durften wieder Beiträge über Sorge veröffentlicht werden, so etwa die Dokumentation Dr. Sorge funkt aus Tokio, erschienen 1965 in Ostberlin.

Im Vorwort schrieb Gerhart Eisler, Vorsitzender des Staatlichen Rundfunkkomitees der DDR, im Kampf der Klassen gegen die Kriegstreiber könne „nicht immer alles an die Öffentlichkeit gebracht werden“. Schon 1951 hatte indes Rudolf Augstein im Spiegel die Serie „Herr Sorge saß mit zu Tisch“ verfasst. Darin prangerte er unter anderem an, dass Hitlers Diplomaten, die Vollstrecker der Achse Berlin – Rom – Tokio, unter Adenauer Karriere machten. Verglichen mit solchem Personal, befand Augstein, habe Sorge sich „weitaus moralischer benommen“.