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Archiv-Artikel

Soll sich Kirche stärker einmischen?Ja

CHRISTEN Kommende Woche ist in Hamburg Evangelischer Kirchentag. Kritiker sagen, Kirche halte sich aus Debatten heraus und fördere nur noch die Spiritualität

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Winfried Kretschmann, 65, ist Ministerpräsident von Baden-Württemberg

Religion und Kirche geht es um die letzten Dinge, der Politik und dem Staat höchstens um die vorletzten. Denn die Kirche verkündet das umfassende Heil der Menschen, der Staat sorgt sich um ihr irdisches Wohl. Aber die Kirche ist nicht aus der Welt gefallen, sondern sie existiert in und lebt mit ihr. Wenn „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art“, auch die ihren sind – wie es das Zweite Vatikanische Konzil formuliert hat –, kann Kirche gar nicht anders, als politisch sein. Nicht im Sinne einer Partei, sondern als eine von vielen Gemeinschaften in unserer Gesellschaft, die Werte und Solidarität leben sowie Beziehungen und Verbindlichkeit fördern. Dies ist auch der Grund, warum die Mütter und Väter des Grundgesetzes das Religiöse nicht aus dem öffentlichen Raum in die Privatheit verbannt haben. Unser Staat lebt aus den moralischen und sozialen Qualitäten und Quellen seiner Gesellschaft.

Bernhard Moltmann, 68, ist Friedensforscher in Frankfurt am Main

Selbstverständlich! Kirchen und Christen – egal ob evangelisch oder katholisch – sind Teil unserer Gesellschaftswelt, und Teilhabe heißt auch Teilnahme. Doch wenn sie moralische Positionen artikulieren, die auf dem christlichen Glauben fußen, darf das nicht als „Besserwisserei“ daherkommen. Es ruft nach einem ethisch begründeten Urteil und will das Gewissen schärfen. Ein gelungenes Beispiel ist die Vorreiterrolle von Christen und Kirchen bei der Kritik an den Rüstungsexporten der Bundesregierung. Mit Aufklärung und Kampagnen haben sie auf die Entleerung von gültigen Normen und Regeln aufmerksam gemacht und damit deutliche Wegzeichen für den öffentlichen Disput gesetzt. Christen und Kirchen bereichern die demokratische Kultur.

Alexander Görlach, 36, Chefredakteur von The European und katholischer Theologe

Kirche muss politisch sein. Als Benedikt Papst war, stand das immer wieder infrage: Lieber zurückziehen aus der Gesellschaft, für sich sein. Das entspricht nicht der Tradition der Kirche; umso verwunderlicher, dass es in der Ära Ratzinger immer wieder diskutiert wurde. Stichwort Entweltlichung. Die mittelalterlichen Stadtkirchen wurden immer so gebaut, dass die ganze Bevölkerung darin Platz hatte. Es ist kein Geheimnis, dass auch im Mittelalter viele Menschen der Messe fernblieben. Die Aussage war eher: Alle gehören dazu, wir kümmern uns um alle. In Zeiten, in denen vom Erb- bis zum Saatgut alles kommerziellen Interessen unterworfen zu werden droht, bleiben die Kirchen einige der wenigen Akteure, die sich gegen diese Entwicklung stemmen können. Sie agieren global und haben weltweit zwei Milliarden Mitglieder. Eine Konzentration allein auf den Himmel wäre daher eine schwere Sünde.

Uta Gerstner, 47, lebt in der Gemeinschaft Brot & Rosen mit Flüchtlingen

Es geht nicht um das OB, sondern um das WIE! Und dass das Handeln der Kirche den eigenen Verlautbarungen entspricht. Gerechtigkeit, die in der Bibel durchbuchstabiert ist, sollte die Leitlinie sein: Stets das Wohlergehen der Schwachen, der „Waisen, Witwen, Alten und Fremden“ im Blick, kann und muss Kirche politisch eintreten, Stichwort Kirchenasyl. Jesus ging als Friedensstifter keinem Streit aus dem Weg, er sollte uns Vorbild sein. In unserem Haus der Gastfreundschaft engagiere ich mich für die gleichberechtigte Teilhabe von Flüchtlingen in unserer Gesellschaft. Das ist gelebtes Engagement im kirchlichen Rahmen. Wenn das nicht politisch ist!

Nein

Friedrich Wilhelm Graf, 64, ist evangelischer Theologieprofessor in München

Die christlichen Kirchen sind religiöse Organisationen mit klarem geistlichen Auftrag. Zwar schreiben sich viele Bischöfe und andere Kirchenfunktionäre gern ein allgemeinpolitisches Mandat zu und nehmen fortwährend zu allem Stellung. Aber ihre eitlen Autoritätsposen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie in der demokratischen Öffentlichkeit nur eine Stimme unter vielen anderen sind. Das geistliche Amt macht keineswegs politisch klüger, kompetenter als andere Rollen in der pluralistischen Gesellschaft. Die Kirchen tun deshalb gut daran, dem schnellen politisierenden Verschleiß ihrer Symbolsprachen zu wehren und sich auf das zu konzentrieren, wozu sie da sind: religiöse Kommunikation zur Sinndeutung der elementaren Krisen endlichen Lebens, verlässliche Riten zur heilsamen Unterbrechung des Alltags, Predigt von einer innerweltlichen Transzendenz des Individuums, die ganz neue Freiheit erschließt.

Detlef Pollack, 57, lehrt und forscht am Institut für Soziologie der Uni Münster

Kirchenvertreter neigen dazu, sich für eine politische Kirche auszusprechen. Der Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden sei von der Botschaft Jesu Christi nicht ablösbar. Tatsächlich ist die Einmischung in politische Fragen für die Kirchen ein probates Mittel, ihre gesellschaftliche Relevanz zu erhöhen. Das Evangelium enthält indes keine klaren Kriterien, welche Seite die Kirche im politischen Streit jeweils einnehmen soll. Und die Mehrheit der Gläubigen erwartet nicht, dass die Kirche sich zu politischen Fragen äußert, sondern dass sie Räume für geistliche Kommunikation bereitstellt und den Hilfebedürftigen beisteht. Jeder soll das tun, was er kann. Freilich. Auch für Theologen ist es zuweilen einfacher, über Politik zu schwätzen, als in verständlicher Form von Gott zu reden.

Uwe Lehnert, 78, ist Autor des Buchs von „Warum ich kein Christ sein will“

Die Kirchen sind das Problem, sie waren nie die Lösung! Die Kirche hat durch ihre finanzielle Macht und ihren Sonderstatus bedeutsame Institutionen krakenhaft im Griff: Parteien, Redaktionen, höchste Gerichte. 40 Prozent der Deutschen bezeichnen sich als konfessionsfrei. Von den Kirchenmitgliedern glauben nur die Hälfte an Gott, an die Gottessohnschaft Jesu und an Wiederauferstehung. Die Kirchen repräsentieren nicht das Volk, beanspruchen aber, für alle zu sprechen. Was befähigt einen katholischen Bischof zu Sexualität, Pfarrerin Käßmann über Afghanistan oder einen Pfarrer zur Endlagersuche zu sprechen? Staat und Religion sind zu trennen. Glaube ist Privatsache. Jeder Gläubige hat sehr wohl, die Kirchen aber haben kein demokratisch legitimiertes Recht, politisch zu wirken. Sie sind nicht gewählt, sie berufen sich nur auf Schriften nicht überprüfbaren Inhalts!

Bettina Schötz, Pädagogin in Berlin, kommentierte die Streitfrage per Mail

Glaube ist etwas Inneres. Die Geschichte zeigt: Wenn sich Kirchen – als Vertretungsinstitution der Gläubigen – in Politik einmischen, kommt oft nichts Gutes raus. Auf das Konto der christlichen Kirche gehen Kreuzzüge, Ausrottung von Indigenen in Amerika, Inquisition. Derzeit wird zwar im Namen von Christen kein Krieg geführt, aber dass sich die katholische Kirche etwa anmaßt, Frauen das Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper abzusprechen oder Homosexualität zu diskriminieren, und bei den Politikern dafür Lobby macht, ist eine Kampfansage. Ich will, dass der Gleichheitsgrundsatz für alle gilt. Kirchen sind kein Garant dafür.