Gefangen, ein Leben lang

NS-GESCHICHTE Der Historiker Otto Dov Kulka hat seine Kindheits- erinnerungen an Auschwitz aufgeschrieben. Herausgekommen ist ein herausragendes Zeugnis

VON ALEXANDRA SENFFT

Viele Überlebende des Holocaust haben ihre Geschichte aufgeschrieben. Otto Dov Kulka, der als Kind Theresienstadt und Auschwitz überlebte und später Professor für die Geschichte des jüdischen Volkes an der Hebräischen Universität Jerusalem wurde, hielt jedoch jahrzehntelang alles Biografische „rigoros“ von seiner Forschung getrennt. Er schwieg und hoffte, den Ängste und inneren Spannungen standzuhalten, glaubte, sich mit der Wissenschaft in „sicheren Bahnen“ zu bewegen. Es war eine trügerische Sicherheit. In seinen Erinnerungen, die er zu seinem 80. Geburtstag nun doch noch vorlegt, bekennt er, seit seiner Kindheit angekettet zu sein: „Für mich endete diese Reise als etwas, das eigentlich niemals in der Freiheit ankam.“

Das Leben als Lagerkind internalisierte er als Urerfahrung, die unvorstellbaren Traumata prägten sein ganzes Dasein. Kulka erzählt, wie nachhaltig ihn die von Mithäftlingen organisierte Erziehung, insbesondere die erste Geschichtsstunde im Kinderblock des KZ, beeindruckte, und mutmaßt, dass er vermutlich deshalb Historiker geworden ist. Es liegt nahe, dass das akademische Arbeiten Otto Dov Kulka geholfen hat, auch nach dem Überleben zu überleben.

Er ist einer der letzten Zeitzeugen, deshalb war es folgerichtig, dass er, ermutigt von Saul Friedländer, endlich seine Erinnerungen niedergeschrieben hat. Kulka hat damit aber auch seiner Mutter Elly ein Denkmal gesetzt. Wie peinigend sein letztes Bild von ihr, kurz bevor sie ins Lager Stutthof deportiert wurde! „Sie trug ein dünnes Kleid, das in der leichten Brise flatterte, und ich sah, wie sie ging und in die Ferne entschwand.“ Der elfjährige Otto begriff nicht, warum sie sich nicht mehr zu ihm umdrehte. Erst 1961 erfuhr er, dass sie mit seinem Bruder schwanger war und ihn noch gesund zur Welt brachte. Die SS ließ den Säugling erschlagen, Elly starb bald darauf an Typhus.

Die Kinder des Lagerchors

Kulka war im Herbst 1943 mit seiner Mutter von Theresienstadt nach Auschwitz-Birkenau deportiert worden. Dort traf er seinen Vater wieder, der seit 1939 verschiedene KZ durchlitten hatte. Die Kulkas kamen ins „Familienlager“, in dem es gegenüber anderen KZ einige Privilegien gab und die Juden sich selbst verwalten konnten. Die Nazis benutzten dieses Lager, um die Weltöffentlichkeit über die Judenvernichtung zu täuschen – Kulka liefert hierzu im Anhang einen wissenschaftlichen Diskurs.

Nach sechs Monaten wurden die dort lebenden Juden ausgelöscht: Der einzige Weg aus dieser „Gräberlandschaft“ führte als „Rauch durch den Schornstein“ der Krematorien, so Kulka. Wie durch ein Wunder entgingen er und sein Vater zweimal der Liquidierung, und sie überlebten sogar den Todesmarsch aus Auschwitz 1945. Kulkas Sprache ist poetisch karg, seine Sätze wirken fast langsam. Die Erinnerungsfetzen und Traumsegmente, die in seinen Text einfließen, spiegeln die Landschaft des Todes, in der die Kinder des Lagerchors „wie kleine Engel zum lautlosen Brennen der Flammen“ sangen. Assoziativ und metaphorisch dringt der Autor in diese „entsetzliche unglaubliche Stille“ des Todes vor, navigiert zwischen Nähe und Distanz, schwebt fast zeitlos zwischen gestern und heute.

Kulka, der seit 1949 in Israel lebt, erschafft ein dicht gewobenes Abbild des NS-Gewaltregimes und des Holocaust: Die Klammer seines Narrativs besteht aus seinen Tonbandaufnahmen von 1991 bis 2001, Tagebuchaufzeichnungen, Gedichten, einem wissenschaftlichen Aufsatz über das Familienghetto, Fotos und Illustrationen.

Immer wieder taucht bei ihm „die Einheit von Gegensätzen“ auf – die Dichotomien und Widersprüche eines Lebens vis à vis dem Tod. Er benennt zweierlei Gerechtigkeiten. Die eine war diese „Ruinenlandschaft“, die Heimat seiner Kindheit: „Denn das war die erste Welt, und die erste Lebensordnung, die ich kennenlernte: die Ordnung der Selektion und der Tod als einzige Gewissheit, die die Welt regiert.“ Auf den Tod war Verlass, er war eine „elementare Gegebenheit“, und alles, was außerhalb des mörderischen Systems lag, erschien ihm irreal. Auch heute noch blickt der Historiker auf diese Epoche als wäre er entrückt oder gar ver-rückt: „Das Gefühl der Entfremdung ist das Einzige, was ich wahrnehme und dem ich Ausdruck verleihen kann. Allein die Authentizität der Entfremdung ist authentisch.“

Die zweite, die moralisch und juristisch ja einzig wahre Gerechtigkeit ist jene, die den Ermordeten und ihren überlebenden Angehörigen hätte widerfahren müssen. Doch sie bleiben Gefangene dieser Todesmetropole, deren Mauern die Erinnerung an ihre Grenze stoßen lässt. Kulkas Text ist ein herausragendes Zeugnis dieser unerträglichen Ungerechtigkeit.

Otto Dov Kulka: „Landschaften der Metropole des Todes: Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft“. Aus dem Hebräischen v. I. Antezana et al. DVA, München 2013, 192 S., 19,99 Euro