Kind des Kalten Krieges

NEUE DRAMATIK Das Theatertreffen gibt es seit 50 Jahren, den Stückemarkt seit 35 Jahren. Das wird gefeiert, ab dem 8. Mai drei Tage lang und mit kurzen Stücken von 35 Autoren in der Pan Am Lounge

Das Schattendasein der neuen Dramatik sei ein Ergebnis der Theaterarchitektur

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Mehr Flair der sechziger Jahre als in der „Pan Am Lounge“ ist wohl kaum in Berlin zu bekommen. Im 10. Stockwerk eines 1966 gebauten Hochhauses in der Budapester Straße gelegen, kann man von den Terrassen aus zu beiden Seiten über die Stadt blicken. Hier feierten einst die Stewardessen und Piloten der Pan Am, die in den Apartements darunter wohnten, ihre Parties. Wandtäfelung und Clubsessel, Stehlampen und Couchtische sind noch original.

Und original sind auch die Schließfächer. Sie wurden nicht mehr geöffnet, seit Anfang der 90er Jahre die Lufthansa die innerdeutschen Flüge von der Pan Am übernahm. Aus einem dieser Schließfächer dringen nun geisterhafte Stimmen: sie lesen in den Briefen des amerikanischen Piloten Hamilton an seine Frau in den USA und an seine Geliebte in Wilmersdorf, in einem liegen gebliebenen Gedichtband von Fontane und der Gebrauchsanweisung einer Schachtel Präservative. Die Flüsterstimmen geschrieben hat Moritz Rinke, ein gefragter Dramatiker, im Auftrag des Stückemarkts, der seit 35 Jahren während des Theatertreffens in Berlin stattfindet. Rinke, 1967 geboren, hat 1996 zum ersten Mal am Stückemarkt teilgenommen. Er gehört somit zu den Theaterautoren, die hier Schubkraft am Anfang ihres Weges verliehen bekamen.

„Der Stückemarkt“, sagt Christina Zintl, die ihn seit zwei Jahren leitet, „ist ein Kind des Kalten Krieges. Die Opposition von Ost und West hat ihn geprägt.“ Deshalb hat sie für das Jubiläum zum 35. Stückemarkt die Pan Am Lounge gewählt, denn so, „wie das Theatertreffen Berlin in der Kultur mit Westdeutschland verband, hielt Pan Am die Verbindung mit ihren Flügen“.

30 der 160 Autoren, die an dem Stückemarkt über die Jahre teilgenommen hatten, haben für das Jubiläum ein Kurzstück geschrieben. Für fünf Autoren, die bereits gestorben sind, hat der Regisseur Hans-Werner Kroesinger ein szenisches Archiv eingerichtet: von Thomas Brasch, Ernst Jandl, Gert Jonke, Einar Schleef und Werner Schwab wird man in dem Apartement unter der Lounge Texte lesen und hören können.

Ein bitterer Ton prägt viele der neuen Kurz-Dramen. Die Nacht vor der Hochzeit wird bei dem katalanischen Dramatiker Carles Batlle zu einer Nacht der Verdrehungen, in der sich das Bild des begehrten Partners radikal verändert: ein spannend geschriebenes Stück, das auch den Zuschauer langsam nur erkennen lässt, wie die Situationen eigentlich zu lesen sind. Werner Buhs entwirft in „Landschaftsbild Lichtenhagen“ das Bild einer Stadt im Würgegriff von Extremismus, Alkoholismus und Demenz. Philipp Löhle lässt einen geschassten Präsidenten durch einen Urwald irren und den letzten Rest von moralischem Anstand verlieren. Dirck Laucke reibt sich in einem Monolog an dem Versuch eines Kleinkünstlers seinem Kumpel mit Migrationshintergrund Mohammed-Witze zu erklären und sich dennoch dessen Freundschaft zu erhalten. Rebekka Kriecheldorf beobachtet Männer, die im Maskulinisten-Seminar „Wecke den schlafenden Krieger in dir“ um ihre Würde ringen.

Die Schließfächer wurden seit Anfang der 90er Jahre nicht mehr geöffnet

Löhle, Laucke, Kriecheldorf schreiben satirisch, ihre Texte sind Farcen, steile Vorlagen für das komische Talent virtuoser Schauspieler – und doch auch von einem unüberhörbaren Pessimismus geprägt. Es scheint, als ob das Kurzformat noch einmal zu inhaltlichen Pointierung beigetragen habe, zügig rollt die Kugel auf den Abgrund zu.

Viele relevante Texte der zeitgenössischen Dramatik, sagt Christina Zintl, sind für großen Bühnen ungeeignet und verlangen intimere Räume. Das Schattendasein, das die neue Dramatik oft führt, ist in ihren Augen deshalb auch ein Ergebnis der ungeeigneten Theaterarchitektur. Auch aus diesem Grund hat sie für den „Stückemarkt Fünfunddreißig“ einen anderen Ort gewählt.

Von der Schaubühne und aus dem Deutschen Theater kommen viele der Schauspieler, die sich der Texte annehmen – unter ihnen Judith Rosmair, Caroline Peters, Susanne Wolff, Wolfram Koch, Felix Römer. Sie werden die Texte nicht nur performen, sondern die Besucher teils auch von Zimmer zu Zimmer, von Stück zu Stück zu geleiten, eine selten intime Form der Begegnung mit Texten, Autoren, Schauspielern. Szenische Lesungen haben oft etwas besonderes: Man sieht dem Theater quasi bei der Entstehung zu, die Schauspieler setzen sich für die Texte ein, als wären die Autoren ihre Patenkinder. Diese affektive Bindung der Darsteller an den Stoff färbt auf die Zuschauer ab: Dies ist live und einmalig, nicht die Routine einer wiederholbaren Aufführung. Das strahlt der Stückemarkt immer wieder aus und in diesem Jahr erst recht.