: Noch hängt das Kreuz, aber für wie lange?
Im Gerichtssaal des NSU-Prozesses ist ein Kruzifix auf Ablehnung von Prozessbeobachtern gestoßen
MAHMUT TANAL, ABGEORDNETER DER TÜRKISCHEN OPPOSTIONSPARTEI CHP
FREIBURG taz | Erst war es weg, nun hängt es wieder, das Kruzifix im Schwurgerichtssaal des Münchner Justizzentrums. Und da dort der NSU-Prozess stattfindet mit Dutzenden überwiegend muslimischen Nebenklägern, war klar, dass es um dieses Kruzifix noch Ärger geben würde.
Jetzt ist der Ärger da: Mahmut Tanal, Abgeordnete der nationalistischen türkischen Oppositionspartei CHP, sah als Prozessbeobachter das Kreuz im Gerichtssaal und empörte sich: „Religiöse Symbole haben in einem Rechtsstaat nichts zu suchen. Das Kreuz ist eine Bedrohung für Nichtchristen“, zitierte ihn die Bild-Zeitung. Vom Gericht verlangte Tanal, das Kreuz zu entfernen.
„Das Kreuz sollte hängen bleiben“, konterte Günther Beckstein (CSU), der ehemalige bayerische Ministerpräsident und Innenminister im evangelischen Pressedienst epd. „Deutschland hat eine christliche Prägung, während in der Türkei die muslimische Tradition wichtig ist“, sagte er, die NSU-Mordopfer hätten allerdings alle in Deutschland gelebt.
In Bayern gibt es kein Gesetz, das die Anbringung von Kreuzen in Gerichtssälen anordnet. Es gebe nur eine staatliche Bauempfehlung, wonach in bayerischen Gerichten „abnehmbare“ Kreuze hängen sollen, so Andrea Titz, die Sprecherin des Münchener Oberlandesgerichts. Die konkrete Entscheidung liege beim Gerichtspräsidenten als Inhaber des Hausrechts und beim Senatsvorsitzenden Manfred Götzl für Vorgänge während des konkreten NSU-Prozesses.
Dass die Kreuze „abnehmbar“ sein müssen, ist eine Folge der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Schon 1973 hatte Karlsruhe entschieden, dass Kreuze im Gerichtssaal auf Wunsch eines Verfahrensbeteiligten entfernt werden müssen. Geklagt hatte damals ein jüdischer Rechtsanwalt, der vor den Nazis nach London geflohen war. Er weigerte sich in einem Entschädigungsstreit am Verwaltungsgericht Düsseldorf zu verhandeln, solange auf dem Richtertisch ein 75 Zentimeter hohes und 40 Zentimeter breites Standkreuz angebracht war. Karlsruhe entschied, dass der Zwang zum „Verhandeln unter dem Kreuz“ für den Kläger eine „unzumutbare innere Belastung“ darstelle. Ihm musste die Verhandlung in einem Gerichtssaal ohne Kruzifix ermöglicht werden. Seitdem sind in vielen Bundesländern die Kruzifixe ohnehin aus den Gerichtssälen entfernt worden.
Wo sie noch hängen – wie flächendeckend in Bayern –, werden sie im Einzelfall auf Wunsch eines Verfahrensbeteiligten entfernt. „Ein solcher Wunsch ist bisher aber von keinem Verfahrensbeteiligten geäußert worden“, sagte OLG-Sprecherin Titz zur taz. Prozessbesucher wie der türkische Abgeordnete gelten nicht als „Verfahrensbeteiligte“, können also keinen derartigen Antrag stellen. Über den Antrag würde dann der Vorsitzende Richter Manfred Götzl entscheiden. Wenn der Antrag von einem muslimischen Nebenkläger mit Verweis auf die Religionsfreiheit begründet wird, hat Götzl kaum eine andere Wahl, als das Kruzifix abzunehmen.
Das einfache Holzkreuz, das über einer Tür angebracht ist, hatte schon vor wenigen Wochen für Schlagzeilen gesorgt. Damals fehlte es nämlich, was die Bild-Zeitung bemerkte und prompt Alarm schlug. CDU-Vize Julia Klöckner kritisierte das Entfernen des Kreuzes ohne Antrag „als gänzlich überflüssige Aktion“. Nach Darstellung von Gerichtssprecherin Titz war das Kruzifix damals aber gar nicht mit Blick auf die vielen muslimischen Nebenkläger des NSU-Prozesses entfernt worden, sondern im Zuge der Umbauarbeiten im Sitzungssaal. „Danach wurde es wie geplant wieder aufgehängt“.
1995 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass Kinder in der Schule nicht „unter dem Kreuz“ lernen müssen. In bayerischen Grund- und Hauptschulen hängen zwar noch Kruzifixe, sie werden aber auf Antrag abgehängt. CHRISTIAN RATH