Der Arme muss fressen

VON HANNA GERSMANN
UND BEATE WILLMS

Aus den Eistruhen der Supermärkte quellen die tiefgefrorenen Menüs, in den Kühlregalen locken die fertig zubereiteten, frisch aussehenden Salate. Beides lässt sich trefflich abends vorm Fernseher verspeisen, in dem hippe junge Superköche mit einem Augenzwinkern und wenig Aufwand mehrgängige Menüs zaubern. Isst Deutschland wirklich so? Kann oder will Hausfrau oder Hausmann nicht mehr kochen? Haben Sprüche wie der gerade wieder aufgelegte „Heute bleibt die Küche kalt, wir gehen in den Wienerwald“ obsiegt?

Ein schneller Blick in die Daten der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) belegt das zunächst nicht. Die DGE untersucht alle vier Jahre das hiesige Essverhalten. Nach den jüngsten Zahlen verbringt der Durchschnittsbürger eine Stunde und 43 Minuten mit Essen & Co – immerhin gut 21 Minuten mehr als noch 1990. „Das hat uns schon überrascht“, sagt DGE-Sprecherin Antje Gahl.

Aber ganz so schnell ist die Frage nicht vom Tisch. Denn die Erkenntnisse basieren auf Statistik – und verallgemeinern. Die Wirklichkeit ist komplizierter. Immanuel Stieß vom Institut für sozialökologische Forschung, ISOE, beispielsweise teilt die Deutschen in sieben Esstypen ein. Darunter die desinteressierten Fastfooder oder die freudlosen Gewohnheitsköche (siehe Kasten).

Die Essgewohnheiten jedenfalls polarisieren. Ines Heindl, Professorin am Institut für Ernährungs- und Verbraucherbildung der Universität Flensburg, sagt: Deutschland entwickelt sich zur „Zwei-Essens-Gesellschaft“. Für die einen ist Essen teurer Lifestyle, die anderen müssen im Supermarkt auf jeden Cent achten.

Da kocht Johann Lafer im „Fröhlichen Weinberg“ beim SWR, Alfred Biolek im WDR und die Mälzers und Co bei den Privaten. In den Buchläden stapeln sich Kochbücher. Dazu gibt es für jede Geschmacksrichtung Kurse – Thailändisch, Hausmannskost oder Haute Cuisine. 300 Euro lassen sich dafür locker einplanen. Zu Hause wird nachgeschnippelt, mit japanischen Messern am frei stehenden Herd. Gäste zum luxuriösen Essen einladen – das ist bei denen, die es sich leisten können, en vogue. Die andere Seite ist trister.

Bernd Siggelkow ist Pfarrer und leitet die Suppenküche in Hellersdorf. Die Plattenbausiedlung am östlichen Rand von Berlin ist kein sozialer Brennpunkt. Und doch kommen jeden Tag 250 Kinder nach der Schule hungrig in die Suppenküche, um zu Mittag zu essen. Ursprünglich war das Angebot nur für 30 Jungen und Mädchen gedacht. Siggelkow hatte vor vier Jahren eine Umfrage unter 280 Schülern im Bezirk gemacht. Ergebnis: Jeder dritte bekam nur zweimal in der Woche eine warme Mahlzeit.

Vor allem arbeitslose Alleinerziehende haben kein Geld, um ihren Kinder eine Mahlzeit zu servieren, sagt Siggelkow. Seit es Hartz IV gibt, fragten auch immer mehr Erwachsene, ob sie eine Portion abbekommen. Nächste Woche eröffnet der Pfarrer eine Suppenküche in Hamburg, im Sommer eine in München. Sie finanzieren sich aus Spenden. Siggelkow sagt: „Hartz-IV-Empfänger können sich nicht gesund ernähren.“

Die Fakten: In Deutschland lebt jedes dritte Kind in einer Familie, die mit weniger als der Hälfte des monatlichen Durchschnittseinkommens von netto 2.200 Euro zurechtkommen muss. Und ein Haushalt, der maximal 900 Euro pro Monat zum Leben hat, gibt gerade mal 140 Euro aus für Essen, Getränke und Tabak. Zum Vergleich: Wer jeden Monat zwischen 3.600 und 5.000 Euro hat, zahlt 404 Euro für Lebensmittel.

„Wer mit einem niedrigen Budget auskommen muss, hat größere Probleme, sich gesund zu ernähren“, weiß auch die grüne Politikerin Bärbel Höhn. „Aber es gibt Wege.“ Die Regierung, so sagt die Vorsitzende des Verbraucherausschusses im Bundestag, müsse dafür sorgen, dass schon Schüler lernen, was gesundes Essen ist. Wie das geht? Das Bundesgesundheitsministerium verweist nur auf längst erstellte „Schulmaterialien“.

Unter Gesundheitsexperten gibt es im Winter einen beliebten Tipp für Menschen, die wenig Geld fürs Essen übrig haben: „Mehr Kohl essen!“ Im Sommer raten sie auch schon mal zu „Kartoffeln mit Quark“. Beide Gerichte sind billig und nahrhaft. Tatsächlich sei es möglich, sich mit wenig Geld gut zu ernähren, sagt Jacqueline Köhler vom Institut für Ernährungswissenschaften an der Uni Gießen. Das gelte besonders für diejenigen, die sich an die Empfehlungen der Gesundheitsexperten hielten.

Aber wer tut das? Der Durchschnittsbürger verschlingt laut Deutschem Fleischerverband in der Woche 1,7 Kilogramm Fleisch und Wurst. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung hält aber gerade mal 300 bis 600 Gramm für gut. Wer auf das Brühwürstchen im Eintopf oder das Rouladenfertiggericht verzichtet, könnte stattdessen mehr Obst und Gemüse kaufen. Hier rät die Weltgesundheitsorganisation zu täglich mindestens 650 Gramm. Die Deutschen verspeisen aber allenfalls 112 Gramm Obst und 145 Gramm Gemüse – Tiefkühlkost schon inklusive.

„Jede zu Hause zubereitete Mahlzeit ist billiger als das Fertiggericht“, sagt Jutta Jaksche vom Bundesverband der Verbraucherzentralen. Doch die Deutschen lieben das schnelle Essen und lassen sich nur zu gern verführen. Die Fast-Food-Ketten haben längst erkannt, dass die Deutschen beim Essen knausern. McDonald’s bietet schon in der dritten Saison „Einmal eins“: Cheeseburger, Pommes, aber auch Cola und Eisbecher gibt es für je 1 Euro. Angeblich, so die neueste Werbekampagne, kommt alles aus ökologisch einwandfreier Produktion. Burger King kontert mit 99-Cent-Angeboten. Die zigtausend Dönerläden, Würstchenstände und Pizzabuden haben nachgezogen. Der fettige Klops, die triefende Pizza machen schnell satt. Wenn der Hunger mangels Ballaststoffen schnell wieder zurückkommt, gibt es eben noch die Tüte Chips.

Das bleibt nicht ohne Wirkung. Fünf von zehn Frauen und drei von zehn Männern sind übergewichtig – und auch schon jedes fünfte Kind. „Eltern übertragen ihre Ernährungskultur auf die Kinder“, warnt Professor Michael Lentze vom Forschungsinstitut für Kinderernährung. Das Problem: Das Küchenwissen schwindet. Im Schnitt verbringt jeder nur noch 17 Minuten am Tag mit dem Kochen – Tiefkühlbeutel raus aus dem Kühlschrank, aufschneiden, Inhalt erhitzen, fertig. „Die Kochwut der deutschen Hausfrau hat deutlich abgenommen“, sagt Lentze. Essen ist am Ende nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch des Wissens. Ernährungsexpertin Köhler konstatiert: „Je schlechter Einkommen und Bildung, desto wahrscheinlicher werden die Hosen eng.“