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Archiv-Artikel

Drum singe, wem keine Arbeit gegeben

Musikalisches als Erlösungsmetapher: Das Staatsschauspiel Dresden widmet dem Thema Hartz IV ein Musical – ob das Format dazu taugt, bleibt auch nach der Premiere fraglich

Im Vorwort zu Moritz Rinkes aktuellem Sozialdrama „Café Umberto“ geht der Theaterautor und Romancier John von Düffel der Frage nach, ob man über Arbeitslosigkeit überhaupt noch schreiben könne. „Die schlechte Nachricht vorweg“, notiert er eingangs, „dieser Stoff wird Theatermacher und Theatergänger sehr viel länger beschäftigen, als es der üblichen Halbwertszeit von Spielplanmoden entspricht. Das Thema Arbeit bzw. Arbeitslosigkeit kommt nicht in Wellen, es ist da, und es wird bleiben, ob man es wahrhaben will oder nicht.“ Aber, so heißt es weiter: Man könne die Arbeitslosigkeit nicht mehr auf die alte sozialkritische Art und Weise auf die Bühne bringen. Mit ihrer Abbildung sei den gesellschaftlichen Realitäten nicht beizukommen, ein solches Theater mache sich mit seinen stereotypen Anklagen vor den Angstexperten im Zuschauerraum lächerlich.

In seinem neuen Stück „Hartz IV – Das Musical“, das am Freitag im Staatsschauspiel Dresden uraufgeführt wurde, scheint der Schweizer Autor und Regisseur Erik Gedeon einige dieser Gedanken aufgegriffen zu haben. Der immer absurder werdenden gesellschaftlichen Debatte um Hartz IV begegnet der Regisseur mit dem Format des Musicals. „Ich weiß nicht, warum ich mir zum Beispiel ‚Evita‘ anschauen sollte, finde aber, dass im Kontext der sozialen Dramen unserer Zeit, die sich vor allem auf den Arbeitsämtern abspielen, das Musical eine gewisse Relevanz bekommt, weil hier eine bestimmte Qualität von Musik sichtbar wird, die Sehnsüchte, Visionen und Träume auszusprechen vermag“, sagt er. Und ein wenig Plakativität kann da offensichtlich nicht schaden, springt einem die politische Thematik ja förmlich ins Gesicht.

„Überhaupt fällt auf, dass viele der neuen Stücke, nicht wenige Inszenierungen, Programmhefte und Dramaturgensätze mit politischen Themen wedeln. Arbeitslosigkeit, Krieg, Terror, Heuschrecken, Kapitalismus – es ist alles da“, konstatiert der Theaterkritiker Dirk Pilz in dem unlängst publizierten Aufsatz „Diesseits des Klassenkampfes. Ein Versuch, das politische Theater zu finden“ in der Zeitschrift Theater der Zeit. Für einen politischen Abend brauchte es nach Pilz jedoch „eine Wirkung, die mehr als ästhetisches Einvernehmen oder Ablehnen provoziert“. In „Hartz IV“ ist in diesem Sinne ein permanentes Wedeln zu beobachten, Anträge auf ALG II werden luftig geschwungen, gefaltet, zerknüllt und zu Schlagwerkzeugen umfunktioniert, oder auch Körperausdünstungen und -gerüche werden förmlich hin und her gewunken. Die Protagonisten des Stückes, ein „Querschnitt der Gesellschaft“, zumindest wie ihn Gedeon sich vorstellt, vom Klischeenazi mit Lippenbärtchen und Scheitel bis zur kopftuchtragenden Muslima, schlagen, treten und bedrohen sich die ganze Zeit. Dialogisiert wird dabei kaum. Nur beim gemeinsamen Singen von bestimmten Titeln aus historischen Musicals wie „Hair“, „West Side Story“ oder „Cats“ schließt die Hartz-IV-geplagte Wartegemeinschaft im Vorraum einer Bundesagentur für Arbeit so etwas wie temporären Frieden und hört auf, sich gegenseitig zu zerfleischen.

Musizieren macht frei

Für den Komponisten und Musiker Gedeon, das kann man aus seinen Statements herauslesen, wird musikalisches Engagement geradezu zu einer politischen Erlösungsmetapher verklärt, wie sie auch in „Hartz IV“ immer wieder durchscheint. „Musizieren macht frei. Aber da in Deutschland ja so gut wie niemand musiziert, bleibt von dieser Freiheit natürlich wenig übrig. Auf die 80.000 musizierenden Deutschen prallt die ganze Wucht von 80 Millionen Menschen, die Musik ausschließlich konsumieren. Das muss man sich mal vorstellen. 80 Millionen Deutsche ohne Stimme. 80 Millionen Deutsche ohne Instrument. Kein Wunder, dass viele von ihnen irgendwann zu dumpfen Fans mutieren, zu pickligen CD-Sammlern, zu drögen Mitklatschern.“ Abgestoßen von der Warenförmigkeit popkultureller Erzeugnisse hätten Gedeons Sätze, die einem schlichten Kulturpessimismus entspringen, dem Semperopernpublikum, das zur gleichen Zeit nur wenige hundert Meter weiter den ersten Opernball seit 67 Jahren feierte, ein diffuses hochkulturelles Einverständnis entlockt. Dessen kann man sich sicher sein.

Auf der inhaltlichen Ebene wird in „Hartz IV“ keine strukturelle Kritik oder Ursachenforschung der Agenda 2010 geleistet. Es geht vielmehr um die Beschreibung krisenhafter Symptome der postindustriellen Arbeitsgesellschaft insgesamt und deren psychische Auswirkungen auf den Einzelnen. Das hat inzwischen Tradition am Dresdner Staatsschauspiel. Während dort bei den „Webern“ aber noch chorisch nach Arbeit geschrien wurde, ist bei „Hartz IV“ längst Schluss mit Beschäftigungsutopien. Leuchtete bei den „Webern“ das Logo der Bundesagentur für Arbeit noch bedrohlich über der Szenerie und kündete von der faktischen Macht dieser Behörde, wird in „Hartz IV“ die Institution selbst nur noch als schmutzig moderne Ruine dargestellt, längst aufgegeben und leer stehend. Was aber die „Bürger ohne Arbeit“ (Wolfgang Engler) in ihrer freien Zeit darin anstellen, stimmt allerdings bedenklich.

ROBERT HODONYI