: Jetzt heißt es erwachsen werden
Feine Unterschiede (1): Viel wäre gewonnen, wenn wir die Buntheit der Moderne nicht mehr im Outfit, sondern im Denken suchen würden. Ein Plädoyer dafür, das in Deutschland gewöhnungsbedürftige Konzept der linken Bürgerlichkeit zu wagen
■ Gibt es sie, die viel beschworene Neue Bürgerlichkeit? Soll es sie geben? Wie fühlt sie sich an? Auf der anderen Seite: Lässt sich das Antibürgerliche wirklich noch mit Konzepten von Selbstverwirklichung verknüpfen?Eine Reihe mit Studien zum Bürgerlichen, Neo-, Alt- oder Anti-, zwischen Aufbruchstimmung und Restekel
VON NORBERT BOLZ
Wenn man heute an den Strand oder ins Schwimmbad geht, hat man Schwierigkeiten, Leute zu entdecken, die nicht tätowiert sind. Wer beim U-Bahn-Fahren soziologische Studien treibt, fragt sich längst nicht mehr, wie viele Mitbürger gepierct sind, sondern nur noch, wie viele Piercingringe an einem Kopf Platz finden können. Wer zum Elternabend geht, muss damit rechnen, dass nicht nur der Deutschlehrer einen rattenschwanzartigen Zopf, sondern auch der Direktor einen Ohrring trägt.
Es gehört kein Mut mehr zur Antibürgerlichkeit. Das gilt nicht nur für das Outfit, sondern auch für das Denken. Obwohl uns die Nationalsozialisten eine lange Phase rechter Antibürgerlichkeit beschert haben, sind wir in unserer Alltagssemantik doch so stark von der Studentenbewegung und der 68er-Generation geprägt, dass wir die Große Verweigerung der Bürgerlichkeit mit der Jugend und der Linken assoziieren. Seit aber niemand mehr weiß, was „links“ heißt beziehungsweise was von der Linken übrig geblieben ist – in schöner, leider unübersetzbarer Doppeldeutigkeit: What’s left? –, erfahren wir das Linkssein nur noch als Konsumgut.
Provokationen provozieren niemanden mehr. Jeder Trottel versucht sich heute als Querdenker zu profilieren, um den Komfort des Unbequemseins zu genießen. Und jede protestantische Pfarrersfrau hat mittlerweile gelernt, auf massenmediale Stichworte wie Guantánamo oder Masri mit „Wut, Trauer und Betroffenheit“ zu reagieren. Entrüstetsein funktioniert bei diesen konfektionierten Gesellschaftskritikern ähnlich wie hochhackige Schuhe bei Frauen – als marked discomfort, als kokett zur Schau gestellte Unbequemlichkeit. Und indem sie sich brüsten, kein Blatt vor den Mund zu nehmen, plappern sie nach, was ihnen die Anne Wills und Gundula Gauses vorgebetet haben.
Die Musik dieser Kulturindustrie des Linkssein stammt von den Skorpions: Winds of Change. Ganz folgerichtig sind sie von den deutschen Zuschauern der Sendung „Unsere Besten“ auf Platz eins gewählt worden. Die Mehrheit genießt sich in der Sentimentalität der Revolte, der Bandleader umarmt den Bundeskanzler der Herzen, und die Koalition der Gutwilligen schwenkt die Feuerzeuge im Takt. So treibt Deutschland im Mainstream des Andersseins der Zukunft entgegen.
Treten wir nun einen Schritt zurück, um diese Phänomene im Zusammenhang zu erfassen. Offensichtlich haben wir es in Mode, Massenmedien und Politik gleichermaßen mit einem Marketing der Antibürgerlichkeit zu tun. Solange es bei Piercing und modisch zerrissenen Hosen bleibt, kann man sich darüber amüsieren. Doch viele missbrauchen diese konfektionierte Antibürgerlichkeit als Lizenz zur Unhöflichkeit. Hässlich und unzivilisiert zu sein gilt ihnen als Beweis von Authentizität. Sie haben Ernst gemacht mit der paradoxen Forderung „Sei spontan!“. Und man kann heute in jedem Seminar, bei jeder Party und jedem Gartengrillfest erfahren, dass spontan heißt, rücksichtslos gegen andere zu sein.
Man braucht keine Fantasie, um sich auszumalen, wohin das führt. Es genügt die Erinnerung an Oskar Lafontaines Satz über die Sekundärtugenden, mit denen man auch ein KZ führen könne. Und umgekehrt braucht man sich nur einen Koreaner anzuschauen, um den Zusammenhang zwischen Zukunftsfähigkeit und Höflichkeit, Fleiß, Gepflegtheit zu erkennen. Oder, um ein vertrauteres Modell zu bemühen: Die Linken, die zukunftsfähig sein möchten, sollten nicht mehr auf Oskar, sondern auf Kafka hören. In dessen Tagebüchern findet sich der Eintrag: „Sich ruhig ertragen, ohne voreilig zu sein, so leben wie man muss, nicht sich hündisch umlaufen.“
Vergesst Einstein! Wer auf der Straße auffällt, hat nichts im Kopf. Viel wäre gewonnen, wenn wir die Buntheit der Moderne nicht mehr im Outfit, sondern im Denken suchen würden. Dass man die Freiheit hat zu sagen, was man denkt, besagt nicht viel, wenn man nicht denkt, was man nicht sagen darf. Einigkeit und Gewissheit sind Symptome für Gehirnwäsche. Gerade wer sich als links versteht, das heißt auf Gegenentwürfe zum Bestehenden nicht verzichten will, müsste lernen, zwischen kognitiven Stilen zu wählen. Das bedeutet aber auch, dass man sich mit moralischem wie mit kognitivem Relativismus abfinden muss.
Nur Dummköpfe sehen in der Welt Probleme, die man lösen kann. Stattdessen weiß jeder Politiker, dass wir es zumeist mit messy problems zu tun haben, die mehrdeutig, ungewiss, hochverknüpft und durch Wertkonflikte geprägt sind. Anspruch steht gegen Anspruch, Theorie gegen Theorie. Wer hier Gewissheit behauptet, weckt Zweifel. Wer dagegen zweifelt, schafft Vertrauen. Modern entsteht Freiheit nämlich gerade durch den Widerstreit der Dogmen, durch die wechselseitige Einschränkung der Ansprüche. Um Paul McCartney zweckzuentfremden: Live and let theories die! Dazu braucht man Gelassenheit – und Humor, den klassischen Verteidigungsmechanismus des Erwachsenen gegen den Fanatismus der Jugend.
In Abwandlung eines bekannten Spruchs könnte man sagen: Wer als Jugendlicher nicht antibürgerlich ist, hat kein Herz; wer es als Erwachsener immer noch ist, hat keinen Verstand. Doch die politische Kindheit dauert heute sehr lange. Bürgerlich heißt in diesem Zusammenhang dann ganz einfach: erwachsen. Wer politisch erwachsen ist, nimmt Abschied von der Utopie, bedient sich der Stoppregel des „gut genug!“ und verzichtet auf die Orientierung am Optimalen.
Rückblickend auf die Revolte erkennt der Bürger, dass seine jugendliche „Kritik“ oft nur eine Flucht vor der Wirklichkeit war und seine „revolutionäre Ungeduld“ sich lediglich nicht damit abfinden wollte, dass in der Moderne alle Werte warten können müssen. Ja mehr noch: Gegen die Religion des Reformismus besteht der Bürger darauf, dass eine Reform nur in Situationen gerechtfertigt ist, die sich verschlechtern, wenn man sie nicht verbessert. Der Status quo existiert – das ist sein Vorteil. Und das Stabile ist nicht immer auch das Optimale.
Wer das für konservativ hält, hat Recht. Nur müsste man begreifen, dass sich die Linken, wenn sie nicht zu Parteigängern des Ressentiments verkommen wollen, heute als die Konservativen der Moderne verstehen müssen. Mit anderen, philosophischeren Worten: Die Linke muss das Paradies der Aufklärung verlassen. Um den Ausgang zu finden, kann sie sich ja an zahlreichen Wegweisern orientieren; Adornos Dialektik der Aufklärung und Luhmanns Abklärung der Aufklärung sind nur die prominentesten. Die Linke dringt auf die Wirklichkeit des Vernünftigen – das ist ihr Verdienst. Nun muss sie den Respekt vor der Vernünftigkeit des Wirklichen lernen. Man könnte auch sagen: von Wowereit lernen – „und das ist gut so!“
Linke Bürgerlichkeit ist in Deutschland noch ein gewöhnungsbedürftiges Konzept. Es geht dabei um einen Konservativismus nicht aus Tradition, sondern aus Komplexität. Damit situiert sich die linke Bürgerlichkeit in einer Äquidistanz zu Biedermeier und Revolte. Dass es darauf ankömmt, die Wirklichkeit zu verändern, ist ihr genau so plausibel wie dass es darauf ankömmt, die Wirklichkeit zu verschonen. So anspruchsvoll ist Linkssein unter Bedingungen der Ungewissheit, das heißt in dem Bewusstsein, dass es in politischen Fragen keine sichtbaren Grenzen zwischen Wissen, Meinung und Ignoranz gibt. Politisches Wissen ist immer nur ein gut sondierter Glaube. Und deshalb müsste man die, die glauben zu wissen, dazu bringen, zu wissen, dass sie glauben. Erst dann haben sie den Ausgang aus dem Narrenparadies der Aufklärung gefunden.
Der Autor ist Professor am Institut für Sprache und Kommunikation an der TU Berlin