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Archiv-Artikel

Ein billiges Manöver

Familienministerin Ursula von der Leyen fordert: Gerechtigkeit und kostenlose Kita-Plätze für alle! Toll! Aber leider will die Ministerin damit nur von ihren eigenen ungerechten Beschlüssen ablenken

VON SABINE AM ORDE

Eben erst hatte sie die umstrittenen Beschlüssen des Bundeskabinetts zur Familienförderung mitgetragen, schon schrieb sich Ursula von der Leyen (CDU) in der Bild am Sonntag wieder aus der Schusslinie.

Auch wenn die SPD gestern Nachbesserungen angekündigt hat: Beschlossen wurde, dass Familien die ersten tausend Euro an Kita-Gebühren nicht von der Steuer absetzen können. Bei Eltern, die ihre Schulkinder nachmittags betreuen lassen, soll diese Regel nicht gelten. Kritiker bemängelten prompt, dass damit die Eltern von Schulkindern gleich doppelt besser gestellt sind: Weil der Kindergarten im Gegensatz zur Schule bezahlt werden muss, fallen für die Betreuung der Kleinen besonders hohe, aber steuerlich schlechter absetzbare Kosten an.

Solchen begründeten Einwänden begegnete die Familienministerin nun mit einer populistischen Retourkutsche: Vertreter von Länder und Gemeinden, die mit den Beschlüssen zur Familienförderung nicht einverstanden seien, sollten mit gutem Beispiel vorangehen – und die Kita-Gebühren abschaffen!

Radikal, aber nicht neu

Eine zwar nicht neue, aber noch immer radikale Forderung, die allseits auf Zustimmung stößt – aber nicht finanzierbar ist.

Trotzdem ist der Vorschlag der Familienministerin bemerkenswert, weil er hier erstmals nicht von Reformpädagogen oder Migrantenvertretern, sondern von einer zuständigen Bundesministerin erhoben wurde.

Von der Leyen spricht sich dafür aus, was seit dem Pisa-Schock eine weit verbreitete Forderung unter den Bildungsfachleuten hierzulande ist: den kostenfreien Zugang aller Kinder zu den Kindertagesstätten – und, implizit, eine neue Definition dieser Einrichtungen. Auch darüber wird in Fachkreisen seit langem debattiert. In vielen Bundesländern wird auch hier und dort an den Kitas gebastelt. Einige Länder wie Berlin und Niedersachsen wollen dem Saarland nacheifern und das letzte Kita-Jahr vor der Schule kostenfrei anbieten. Bislang allerdings ist von allen Verbesserungsvorschlägen in der Praxis erschreckend wenig angekommen, die Umsetzung eines umfassenden Reformkonzepts nicht in Sicht.

Gute Gründe dafür aber gibt es mehr als genug: Schließlich haben die Pisa-Schülerstudie und auch ihre kleine Schwester, die unter Fachleuten „Kindergarten-Pisa“ genannte OECD-Untersuchung der Vorschuleinrichtungen, hierzulande gezeigt: Der Bildung der Allerkleinsten wird in Deutschland noch immer viel zu wenig Bedeutung beigemessen; die Bundesrepublik gibt im internationalen Vergleich zu wenig Geld für die frühkindliche Bildung aus, die Erzieherinnen sind schlecht ausgebildet und werden entsprechend mies bezahlt. Die Qualitätsanforderungen der Bundesländer und Kommunen an die Einrichtungen sind nach Angaben der OECD häufig „anspruchslos“. Dort wird mehr auf die richtige Toilettenhöhe geachtet als auf pädagogische Konzepte.

Und: Ein Drittel aller Kinder aus niedrigen Einkommensschichten geht überhaupt nicht in den Kindergarten. Darunter sind viele Migrantenkinder. Für viele von ihnen ist die Förderung in der Kita besonders wichtig – denn zu Hause bekommen sie diese häufig nicht.

Chancen für alle?

In den Jahren vor der Schule werden die Grundlagen dafür gelegt, ob ein Kind in seiner weiteren Bildungslaufbahn die Hauptschule oder ein Gymnasium besucht, erfolgreich sein oder scheitern wird, vergeblich einen Ausbildungsplatz sucht oder zum Studieren an die Uni geht.

Von „Bildungschancen für alle“ ist daher derzeit häufig die Rede – wenn auch nur rein rhetorisch. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich dies jüngst auf die Fahnen geschrieben, SPD-Chef Matthias Platzeck sowieso. Bundesvorstände und Landesparteitage debattieren darüber. Ob dies Konsequenzen haben wird, bleibt abzuwarten.

Klar aber ist: Wer die Chancen für Kinder aus bildungsfernen Familien verbessern will, muss in die Kitas investieren. Das dürfen BundespolitikerInnen wie von der Leyen nicht den klammen Ländern und Kommunen überlassen: „Wünschenswert, aber illusorisch“ hat denn auch der Städte- und Gemeindebund umgehend abgewunken. Und Vertreter der Länder haben an von der Leyen appelliert, Bundesmittel bereitzustellen.

Dass es dazu aber wohl nicht kommen wird, das weiß natürlich auch Ursula von der Leyen – aber sie ist nach ihrem Manöver vom Wochenende fein raus. Denn jetzt ist ihre Forderung in aller Munde, und nicht mehr der kritikwürdige Beschluss der Ministerin.