: Ein Toter als Verhandlungsmasse
AUS KÖLN PASCAL BEUCKER
Vorspiel: Das Wetter ist angemessen. Es regnet, es ist kalt und ungemütlich. Mit hoch geschlagenen Kragen und mürrischen, bisweilen traurigen Gesichtern huschen die Menschen in das Justizzentrum in der Luxemburger Straße. Im Gebäude herrscht business as usual. Kein polizeiliches Großaufgebot sichert den Ort ab wie noch zu Zeiten der spektakulären Verhandlungen gegen die Kölner Türsteherszene, keine Kameras sind aufgebaut wie noch beim Müllskandalprozess. Der Fall, der an diesem Dienstagmorgen vor der Zivilkammer des Landgerichts Köln verhandelt wird, ist ja auch nur einer von vielen an diesem Tag, die hier im Viertelstundentakt abgehandelt werden. Und es geht ja auch eigentlich nur ganz banal um Geld: Der Kläger will 25.000 Euro, der Beklagte aber nur 10.000 Euro zahlen. Doch die kühlen Zahlen täuschen. Denn hinter ihnen verbirgt sich das Schicksal eines Menschen – und ein Polizeiskandal, der vor knapp vier Jahren nicht nur Köln erschütterte. Die Kläger in diesem Schmerzensgeldprozess sind die Hinterbliebenen von Stephan Neisius, die Beklagte das Land Nordrhein-Westfalen.
Es geschah am 11. Mai 2002. Neisius stritt sich an diesem Abend mit seiner Mutter, mit der er gemeinsam in der Kölner Innenstadt lebte. Und der 31-Jährige stritt sich so laut, dass eine Nachbarin wegen Ruhestörung die Polizei rief. Gegen 22 Uhr trafen die Beamten in dem Mehrfamilienhaus ein. Nachdem ihnen die Tür nicht geöffnet wurde, verschafften sie sich Zugang zu der Wohnung und stürzten sich auf Neisius. Die Äußerung der Mutter, ihr Sohn sei krank, beachteten sie nicht. Bei seinem Abtransport durchs Treppenhaus sei ihnen der an Händen und Füßen Gefesselte „mehrfach aus den Händen“ geglitten, werden die Polizisten später angeben.
Zwischenspiel: „Die Situation war ja fatal, irgendwas musste passieren“, rekapituliert Reinhold Becker, der Vorsitzende Richter, in dem kleinen schmucklosen Verhandlungssaal des Landgerichts. „Wir haben objektiv keine Gefährdungssituation gehabt“, erwidert Lars Schöler, der als Anwalt die Angehörigen von Neisius vertritt. „Zu den Körperverletzungen ist es erst auf der Polizeiwache Eigelstein gekommen“, insistiert Becker. „Man kann einen Menschen nicht kopfüber vier Etagen runterbringen“, widerspricht Schöler erneut. Doch Becker unbeirrt: „Der Abtransport aus der Wohnung war nicht rechtswidrig, rechtswidrig war das ‚Verhauen‘ auf der Wache.“ Allerdings räumt er auch ein: „Keiner der Polizisten hat sich über den Zustand von Neisius Gedanken gemacht.“
Was auf der Wache am Kölner Eigelstein mit dem Sozialhilfeempfänger und Musiker geschah, gaben zwei anwesende, jedoch unbeteiligte Polizisten schriftlich zu Protokoll: Fünf bis sechs Beamte hätten in der Sicherheitsschleuse auf den am Boden Liegenden brutal eingeprügelt und ihn dabei an Kopf, Rumpf, Armen und Beinen getroffen. Der Zweizentnermann sei dann unter Beschimpfungen und Schlägen durch den Flur in die Zelle geschleift worden. Auch dort sei der immer noch an Händen und Füßen Gefesselte von mehreren Polizisten malträtiert worden. Die Tortur endete erst mit dem Eintreffen der Sanitäter, die Neisius ins Krankenhaus brachten. Dort kollabierte der Thrombose-Kranke bei einer unter Zwang durchgeführten Blutprobe. Die Ärzte stellten bei ihm einen Bluterguss im Gesicht fest, „ein deutlich geformtes, frisches Hämatom, nach Art eines Schuhsohlenabdruckes“. Am 24. Mai starb Stephan Neisius. Laut Obduktionsbericht war ein Hirnödem die Todesursache.
Ende Juni 2003 verurteilte das Kölner Landgericht sechs Polizeibeamte wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung im Amt mit Todesfolge zu Bewährungsstrafen zwischen 12 und 16 Monaten. Die Misshandlungen durch die Polizisten, so befand das Gericht, hätten zwar „nicht unmittelbar zum Tode geführt“, seien aber doch mitverantwortlich dafür, dass Neisius in das Koma fiel, aus dem er nicht mehr erwachte. Strafmildernd sei zu werten, dass auch andere Ursachen mitverantwortlich gewesen seien. So sei der unter einem starken psychotischen Schub Leidende im Krankenhaus nicht sachgerecht versorgt worden. Das Gericht zeigte sich überzeugt, dass „das Opfer bei richtiger Behandlung wohl noch leben könnte“. Nichts desto trotz hätten die Polizisten wissen müssen, dass „Tritte und Schläge gegen den Kopf eines Menschen den Tod nach sich ziehen können“.
Finale: Das Leiden eines Menschen, verhandelt wie auf einem Basar? 10.000 Euro hat das Land, in dessen Dienst die prügelnden Polizisten standen, bereits inzwischen von sich aus an die Hinterbliebenen von Stephan Neisius an Schmerzensgeld gezahlt. Aber die verlangen 15.000 Euro mehr. Das Gericht schlägt einen Vergleich vor: Weitere 5.000 Euro, und der Fall kann zu den Akten gelegt werden. „Das würde ich als aussichtsreich bewerten“, sagt der Vertreter des Landes nach dem Ende der Verhandlung. Schöler, der Anwalt der nicht anwesenden Familie Neisius, hält die angebotene Summe für zu niedrig. Drei Wochen haben beide Seiten nun Zeit, sich endgültig zu entscheiden. Kommt es zu keiner Einigung, wollen die Richter am 7. März ihr Urteil fällen. Beim Verlassen des Gerichtsgebäudes ist es immer noch kalt und ungemütlich. Ein trauriger Tag.