: Warum wir nicht versichert sind
In der S-Bahn hat er sie gefragt. Zwischen all den Leuten. Er hat sie gefragt, ob sie ihn heiraten will. Irgendwo zwischen zwei Stationen in einem nüchternen schwankenden Waggon. Einfach so. Und sie hat gelacht und genickt. Sie lacht auch jetzt, wenn sie davon erzählt.
Vera Kravchik sitzt am Küchentisch ihrer Berliner Wohnung und schiebt einen Teller mit Kuchen beiseite. „Wir heiraten nicht nur wegen der Versicherung“, sagt sie. Es klingt ein bisschen, als müsse sie sich dafür entschuldigen. „Aber auch deswegen. Denn so kann es ja nicht weitergehen. Kaffee?“ Sie steht auf und setzt Wasser auf.
Seit drei Jahren ist die 34-jährige Russin nicht versichert – nicht gegen Arbeitslosigkeit, nicht für ihre Rente. Vor allem aber ist sie nicht krankenversichert. Drei Jahre sind eine Menge Zeit: Sie hat einen Zahn, der dringend behandelt werden muss. Das Geschwür am Zwölffingerdarm soll endlich untersucht werden, genauso ihre Schuppenflechte. Und auch der Gynäkologe, damals in Sankt Petersburg, hatte ihr gesagt, dass nicht alles in Ordnung ist.
„Vielleicht ist das gar nicht so wild“, sagt Vera und gießt heißes Wasser in die Kanne. „Aber irgendwann bekommst du Angst, es könnte vielleicht Krebs sein. Diese Ungewissheit ist einfach schwer zu ertragen.“
Als sie 2001 nach Deutschland kam, fand sie den Absicherungswahn hierzulande eher befremdlich. An der Newa lebte sie mit Eltern und vier Geschwistern in einer Drei-Zimmer-Wohnung. Geld war praktisch nie da, und in der chaotischen Zeit des Umbruchs wuchs Vera auf wie viele Russen: Du musst leben mit dem, was da ist, nicht mit dem, was möglich wäre. „Das Prinzip in Russland ist sehr einfach“, sagt Vera, „wenn du gut behandelt werden willst, musst du Geld auf den Tisch legen.“
Nach ihrem Geografiestudium arbeitet sie in einer Petersburger Station für Straßenkinder. Der tägliche Wahnsinn dort, die geballte Hoffnungslosigkeit – irgendwann ist Vera ausgebrannt. Und weil ein Bruder bereits in Deutschland lebt, kehrt sie dem Elend den Rücken und siedelt zu ihrem deutschen Freund. Damit fällt sie aus dem Ich-behandle-wenn-du-zahlst-Prinzip in ein System aus hunderten Krankenkassen, Versicherungsbestimmungen, Ausnahmeregelungen und Zuzahlungsmodalitäten.
Als sie 2003 einen Studienplatz für Sozialpädagogik bekommt, stellt eine Kasse fest, dass sie nicht sozialversicherungspflichtig ist und sich selbst absichern muss. Zwar jobbt Vera neben dem Studium, doch ohne Bafög reicht das Geld für keine Privatkasse. Dass sie über das Sozialamt dennoch abgesichert wäre, hat sie erst später erfahren. Zu spät, trotz vieler Nachfragen.
„Am Anfang war mir das Thema auch egal“, sagt Vera, stellt den Kaffee auf den Tisch und schaut trotzig. Nein, sie ist kein absicherungswütiger Mensch. Sie kann gut leben, auch ohne zu wissen, wo im nächsten Jahr das Geld herkommt. Aber nicht krank werden dürfen macht krank.
„Und dann denkst du übers Kinderkriegen nach und die teuren Untersuchungen“, sagt sie. „Mit der Zeit fühlst du dich hilflos, wenn alle in diesem Land versichert sind, nur du nicht.“ Sie fügt hinzu: „Das ist auch eine Art der Verletzung.“ JÖRG ALBINSKY
Detlef Popiak ist aufgewacht, und alle Geräusche haben sich seltsam gedämpft angehört. Die Klospülung hat ganz leise geplätschert und der Motor von seinem Renault hat samtweich gebrummt. Alles wie durch Watte.
Bei der Ohrenärztin, gleich um die Ecke, hat er trotz des gedämpften Hörens natürlich gut verstanden, was die Sprechstundenhilfe wollte. Die Versichertenkarte. So fängt ja jeder Arztbesuch an. Erstens: Name. Zweitens: Haben Sie einen Termin? Drittens: Karte. „Keine Karte“, hat Popiak gesagt. „150 Mark“, hat die Sprechstundenhilfe gesagt, weil damals, im Jahr 2000, war der Euro ja noch nicht eingeführt. Die Ärztin hat dann ihr Guckgerät so in sein Ohr gesteckt, dass Popiak sie fast angebrüllt hätte.
Die Trommelfelle sind von alleine wieder zusammengewachsen, und eigentlich hat das Detlef Popiak nur bestätigt in seiner Entscheidung. Er blättert in dem Ordner, in dem die Rechnungen von der AOK Berlin abgeheftet sind. 207 Mark 1996, 207 Mark 1997, immer 207 Mark pro Monat.
Er findet die Seite, guckt aus seinen klaren dunklen Augen und lächelt triumphierend, als ob jetzt gleich ein Hammer kommt. „Jetzt kommt der Hammer: Plötzlich sollte ich 475,24 Mark zahlen. Ohne dass sich bei mir irgendwas verändert hatte. Ich habe überlegt, wie viele Fensterchen ich für 250 Mark Beitragserhöhung zusätzlich putzen muss. Da wird man ja erst krank vor lauter Mehrarbeit!“
Detlef Popiak ist nämlich Fensterputzer. Als er in den 60er-Jahren Schriftsetzer lernte, waren im Lehrlingsheim immer welche mit Geld. Das waren die Fensterputzer. „Wir hatten nie Geld, die hatten immer Geld“, sagt Popiak. Deshalb ist er umgestiegen und hat Gebäudereiniger gelernt. Er war danach auch mal Fernfahrer, Erzieher in einem Jugendtreff und taz-Handverkäufer. Aber 1991 hat er sich wieder fürs Fensterputzen entschieden. Er mag den Beruf. Wenn er mit dem Lederlappen die Scheiben poliert, schaut er sich die Menschen auf der Straße an. Er denkt sich kleine Geschichten aus, die er seiner Mail-Partnerin in Hessen schickt.
Am Anfang ist er mit dem Mofa zu den Kunden geknattert. Die Leiter hatte er hinten auf dem Rücken. Später hat er einen Kastenwagen angeschafft, einen Renault Rapid. Die Leiter hat er jetzt hinten im Kasten. Den Renault konnte er kaufen, weil das Geschäft zuerst ein wenig besser ging. Aber dann ging es wieder ein wenig schlechter. Die Läden und Gaststätten sparen. Sie bestellen den Fensterputzer nicht mehr jede Woche, sondern alle 14 Tage oder einmal im Vierteljahr. Und dann gibt es den Trend mit den Nichtraucherplätzen. Je weniger Kneipengäste qualmen, desto länger bleiben die Fenster sauber, desto weniger Aufträge hat Popiak. Gut, dass er nicht noch die Krankenkasse zahlen muss.
Jetzt könnte es ja passieren, dass er im Renault Rapid eine rote Ampel übersieht. Oder dass Wischwasser runtertröpfelt, Popiak in die Pfütze steigt und – zack. Früher war er noch in der Bau BG. BG heißt Berufsgenossenschaft, die zahlt bei Arbeitsunfällen. Aber die wollte auch mehr Beiträge. Popiak hat gekündigt. Keine Bau BG, keine AOK, nur Popiak. Für kleinere Sachen hat er immer was auf dem Konto. Für was Größeres müsste das Sozialamt zahlen, hinterher würde es wahrscheinlich versuchen, sich das Geld von ihm nach und nach zurückzuholen.
Er ist gesund. „Der Körper weiß, er kann nicht mit jedem Wehwehchen kommen und mit dem gelben Schein einfach blaumachen“, sagt Popiak. Andererseits: Er wird nächstes Jahr 60. Und er raucht. Aber er spielt auch jeden Mittwoch Tischtennis. „Das ist mein Gesundheitstraining.“ GEORG LÖWISCH
Einfluss auf sein Lebensgefühl, sagt Martin Fischer, hat die fehlende Krankenversicherung nicht. Im Alltag zumindest. Wenn alles läuft. An einem Januarmorgen im vergangenen Jahr aber lief plötzlich gar nichts mehr: Fischer wachte mit brennenden Lungen auf, Todesangst überkam ihn. Wohin im Notfall ohne Krankenversicherung? Plötzlich war diese Frage ganz unabweisbar.
Der 45-jährige Berliner landete in der Ambulanz einer Ärztin in einem katholischen Krankenhaus, die Kranke ohne Krankenversicherung betreut. Die meisten Patienten sind Einwanderer ohne Aufenthaltserlaubnis. Aber auch Deutsche wie Fischer kommen immer häufiger. Inzwischen kennt er die Ärztin gut. Nachdem sie eine verschleppte Lungenentzündung diagnostiziert hatte, betreute sie ihn wochenlang. Kostenlos. Auch die Medikamente bekam er von ihr. Nur das Röntgen, das ein anderer Arzt übernahm, musste Fischer aus eigener Tasche zahlen. Furchbar sei das alles gewesen, sagt er.
An seiner Einstellung aber habe das nichts geändert: „Eine Krankenversicherung macht Sinn. Aber bei meinen geringen Einnahmen kann ich sie mir nicht leisten.“
Fischer studiert Architektur, und das schon seit vielen Jahren. Mit Jobs hält sich der gelernte Glaser, der nach dem Abitur eigentlich Kunst studieren wollte, über Wasser. Doch die Aufträge, die früher vor allem aus der alternativen Kulturszene regelmäßig kamen, sind selten geworden. Und die Einnahmen entsprechend gering. 2.000 Euro habe er, auch krankheitsbedingt, im letzten Jahr eingenommen, sagt Fischer. Sozialhilfe bekommt der Student nicht. Im vergangenen Jahr ist er, mit 45, deshalb wieder zu seinen Eltern in den bürgerlichen Bezirk Steglitz gezogen. Er will seine Lebenshaltungskosten möglichst gering halten – und endlich den Abschluss machen. „Aber diese Periode zieht sich schon zu lange hin.“
Die Periode ohne Krankenversicherung ist noch viel länger. Fast 15 Jahre lebt er jetzt ohne Versicherungsschutz, mit einer Unterbrechung. Angefangen hat das, als er 30 wurde. Da hört die Pflichtversicherung von Studenten auf. Nach seinem Geburtstag, damals war Fischer noch als Student der Japanologie eingeschrieben, zahlte er monatelang seine Beiträge nicht. Irgendwann schmiss die Kasse ihn raus.
Ein paar Jahre später schmuggelte ihn ein Freund wieder in die gesetzliche Krankenversicherung. Er stellte Fischer – zumindest auf dem Papier – sozialversicherungspflichtig in seiner Firma an, die Kosten von 700 Mark im Monat zahlte Fischer ihm zurück. „Lange war das nicht drin“, sagt er. Nach ein paar Monaten lösten die beiden das Beschäftigungsverhältnis wieder auf, Fischer blieb in der Krankenkasse – als freiwillig Versicherter.
Doch als er mit dem Architekturstudium begann, wurde das Geld noch knapper. Wieder zahlte er seine Beiträge nicht, wieder flog er aus der Kasse. Seitdem sucht Fischer einmal im Jahr einen Zahnarzt auf, dem zahlt er dann 100 Euro in bar. Zu anderen Medizinern aber geht er nicht. Nicht, wenn er keine Todesangst verspürt. SABINE AM ORDE